Weiterentwicklung der Politik für die ländlichen Räume
Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik beim BMEL (übergeben am 11. Oktober 2006)
Der Wissenschaftliche Beirat begrüßt und unterstützt die zunehmende Ausrichtung der Agrarpolitik hin zu einer sektorübergreifenden Politik für die ländlichen Räume. Er sieht jedoch mit Sorge, dass sich trotz der Bemühungen um die Weiterentwicklung dieser Politik grundlegende Ineffizienzen in der Politikgestaltung fortsetzen, wobei insbesondere die Mehrebenenverflechtung der Entscheidungs- und Finanzierungsstrukturen (EU, Bund, Länder, Kommunen) falsche Anreize setzt.
Der Beirat befürchtet, dass die aktuellen und künftigen Probleme der ländlichen Räume ohne einen grundlegenden Politikwechsel nicht bewältigt werden können.
Der Beirat hat diese Problematik diskutiert und empfiehlt eine grundsätzliche Neugestaltung der Politik für die ländlichen Räume. Diese Empfehlungen sind auch vor dem Hintergrund der laufenden Föderalismusdiskussion und der Debatte um die zukünftigen Entscheidungs- und Finanzierungsstrukturen in der EU zu sehen.
Grundsätze für eine Neugestaltung
1. Angesichts regional differenzierter Entwicklungsprozesse und -potenziale muss Politikgestaltung für ländliche Räume grundsätzlich an einer problem- und handlungsorientierten und nicht sektoralen Sicht ländlicher Räume anknüpfen. Die Forderung nach einem Gesamtkonzept für die regionale Entwicklung bedeutet dabei nicht die Ausrichtung auf ein universelles Leitbild für die ländlichen Räume. Politikgestaltung sollte stattdessen – unter Beachtung des Kohärenzziels – unterschiedliche Entwicklungspfade ländlicher Räume zulassen und unterstützen.
2. Auch in der Politik für die ländlichen Räume sollte grundsätzlich das Subsidiaritätsprinzip gelten, welches im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft verankert ist. Nach diesem Prinzip sollen politische Aufgaben möglichst dezentral wahrgenommen werden. Eine Übertragung auf eine höhere Ebene sollte nur vorgenommen werden, wenn eine Aufgabe auf einer niedrigeren Ebene nicht hinreichend erledigt und wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen besser auf der höheren Ebene wahrgenommen werden kann.
3. Die praktische Umsetzung dieses Prinzips erweist sich als ausgesprochen schwierig, weil eine Zuordnung von Aufgaben zu einzelnen Ebenen zumeist nur selten eindeutig ist. Es lassen sich fast immer Argumente für die Beteiligung übergeordneter Ebenen (Bund, EU) finden. In der Entwicklung der Politik für die ländlichen Räume hat dies dazu geführt, dass hier die Kompetenzen von Kommunen, Ländern, Bund und auch EU gemeinsam wahrgenommen werden. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass diese Mehrebenenbeteiligung an der Politik für die ländlichen Räume in eine "Verflechtungsfalle" führt.
4. Deshalb kommt der Beirat in der Abwägung von Vor- und Nachteilen zu der Grundsatzempfehlung, diese Mehrebenenbeteiligung wieder zu entflechten.
5. Auf diese Weise sollen dezentrale Entscheidungsstrukturen gestärkt und eindeutige politische Zuständigkeiten geschaffen werden. Die verantwortlichen Entscheidungsträger können sich bei der Politikgestaltung für ländliche Räume dann nicht mehr auf einengende Vorgaben der übergeordneten Ebene berufen oder lediglich finanztaktische Überlegungen anstellen (zum Beispiel Minimierung von Anlastungsrisiken). Der wichtigste Vorteil der Entflechtung besteht darin, dass Politikgestaltung schnell und flexibel auf neue Herausforderungen reagieren kann; es ist nicht mehr nötig, langwierige Verhandlungen mit den übergeordneten Ebenen zu führen oder auf die nächste Programmperiode zu warten. Schlussendlich sollte dieser Politikwechsel auch Einsparungen der Administrationskosten mit sich bringen und einen Bürokratieabbau befördern.
6. Die Entscheidungs- und auch die Finanzierungskompetenz der EU sollte auf übergeordnete und globale oder supranationale Problemstellungen (zum Beispiel Kohärenz, Wettbewerbsaufsicht, Klimapolitik, Natura 2000) konzentriert werden, und die dezentrale Entscheidungs- und Handlungskompetenz in der Politik für die ländlichen Räume sollte gestärkt werden.
7. Auch in Bezug auf die Bund-Länder-Verflechtung sind die Kompetenzen des Bundes und der einzelnen Bundesländer neu zu bewerten und abzugrenzen. Die Kompetenzen der Bundesländer würden dabei nach dem Subsidiaritätsprinzip in der Tendenz ausgeweitet werden, wobei bundesgesetzlich definierte Ziele (auch Kohärenzziele) zu beachten sind, zum Beispiel im Bundesnaturschutz-, Raumordnungs- und Landwirtschaftsgesetz. In Bezug auf überregionale und bundesstaatliche Aufgaben kann entweder der Bund konkrete Leistungen bei einzelnen Ländern einkaufen (eigene Programme auflegen, beispielsweise Wettbewerbe) und insoweit die Entscheidungs- und Finanzierungskompetenz selbst ausüben, oder die Aufgabe in Kooperation mit den betroffenen Bundesländern oder Regionen organisieren, zum Beispiel den Hochwasser- und Küstenschutz. Der Bund sollte den Rahmen für regelmäßig durchzuführende Evaluierungen der regionalen Entwicklungskonzepte vorgeben und weiterhin für das Monitoring der Entwicklung ländlicher Räume verantwortlich sein.
8. Angesicht der starken Interdependenzen zwischen den Regionen in Deutschland und in der EU ist es erforderlich und sinnvoll, Belange der ländlichen Räume in den interregionalen Finanzausgleich einzubeziehen, und zwar sowohl auf der nationalen Ebene (Bund, Länder und Kommunen) als auch auf der EU-Ebene. Für diesen Finanzausgleich gibt es im Wesentlichen zwei Begründungen:
- Ausgleich für Leistungen, die Regionen unentgeltlich für andere Regionen erbringen
- überregionale Solidarität von stärkeren Regionen zugunsten bedürftigerer Regionen
Regionsübergreifende Leistungen in der Bereitstellung öffentlicher Güter sollten durch entsprechende interregionale Finanzströme kompensiert werden, sofern diese Güter knapp sind. Dieses Prinzip ist im kommunalen Finanzausgleich bei öffentlichen Infrastrukturleistungen weitgehend anerkannt. Dies sollte im Grundsatz auch für flächenbezogene öffentliche Güter gelten, die die ländlichen Regionen bisher weitgehend unentgeltlich bereitstellen. Das gilt auch für Leistungen, zu deren Bereitstellung ländliche Räume durch ordnungsrechtliche Regelungen gezwungen werden und die eine Einschränkung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten bedeuten.
Bezüglich der überregionalen Solidarität ist davon auszugehen, dass die Bereitschaft zur Solidarität tendenziell abnimmt, je weniger ausgeprägt die persönlichen und kulturellen Beziehungen zwischen den Regionen sind. Vermutlich werden Finanzausgleichsmaßnahmen innerhalb eines Staates von der Bevölkerung in höherem Maße akzeptiert werden als dies für Transferleistungen zwischen den Mitgliedsstaaten innerhalb der EU gilt. Deshalb können die Indikatorwerte (zum Beispiel Einkommensabstände), die einen interregionalen Finanztransfer auslösen, auf nationaler Ebene anders ausfallen als auf EU-Ebene.
Grundsätzlich sollte der hier skizzierte Finanzausgleich transparent gehandhabt werden und sich an nachvollziehbaren Kriterien orientieren. Die Leistungs- und Bedürftigkeitsindikatoren sollten fortlaufend beobachtet werden. In regelmäßigen Abständen sollte der interregionale Finanzausgleich in Abhängigkeit von der Entwicklung der Kriterien neu justiert und bei Bedarf degressiv ausgestaltet werden.
9. Die Bundesländer sollten verpflichtet werden, schlüssige und nachprüfbare Konzepte der Regionalentwicklung vorzulegen und daraus die regionale Verteilung der Mittel innerhalb des Landes ableiten. Wo die regionalen Verhältnisse dies nahe legen, sollten ländliche Räume nach funktionalen Kriterien zu regionalen Einheiten zusammengefasst werden. Diese regionalen Einheiten sollten verpflichtet werden, schlüssige und nachprüfbare Konzepte für ihre Entwicklung vorzulegen. Im Rahmen dieser Konzepte und der ihnen zugewiesenen Kompetenzen sollten sie allerdings frei und flexibel über die Verwendung der Mittel entscheiden können.
10. Die Effizienz des Mitteleinsatzes sollte in regelmäßigen Abständen evaluiert werden. Dieser Prozess sollte durch die übergeordneten Ebenen (zum Beispiel der Bund für die Länderprogramme) organisiert werden. Dabei sollte es sich nicht um eine Bewilligungsprüfung der Konzepte durch übergeordnete politische Institutionen handeln, sondern um öffentliche Darlegung und Kontrolle zur Verbesserung der Transparenz (Wirkungsanalyse). Die Vorgaben für Planung, Monitoring und Evaluation auf nationaler und europäischer Ebene sollten durchgreifend verbessert werden.
11. Der interregionale Finanzausgleich in der oben skizzierten Form entspricht dem Gebot der Solidarität und schafft die Voraussetzungen zur Verbesserung der finanziellen Situation in einigen ländlichen Regionen. Die zusätzlichen Finanzmittel können dort zugunsten der ländlichen Entwicklung eingesetzt werden. Allerdings stellt diese Form des interregionalen Finanztransfers für sich genommen weder eine Verpflichtung noch einen Anreiz dar, um die ländliche Entwicklung zu fördern. Die übergeordnete Ebene (zum Beispiel der Bund) führt lediglich einen interregionalen Verteilungsautomatismus aus, wäre aber im Grunde aus der Zuständigkeit für die ländliche Entwicklung entbunden und würde deshalb ihre innovative Kraft eher auf andere Politikbereiche ausrichten.
12. Deshalb stellt sich die Frage, wie der Bund zur Erreichung der gesamtstaatlichen Kohärenzziele in Bezug auf die ländlichen Räume beitragen kann, ohne erneut in die Verflechtungsfalle zu geraten. Die Fortführung der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz (GAK) ist nach Auffassung des Beirats kein Erfolg versprechender Ansatz (für die GRW gilt entsprechendes). Ein vollständiger Rückzug des Bundes aus der Finanzierung der Politik für die ländlichen Räume wäre jedoch ebenfalls problematisch, weil der Bund dann gegenüber den Ländern keine wirksamen Sanktions- und Anreizmechanismen hätte, um die gesamtstaatlichen Kohäsionsziele durchzusetzen.
13. Als Alternative schlägt der Beirat deshalb vor, den oben skizzierten interregionalen Finanzausgleich durch eine Programmförderung des Bundes zu ergänzen. Dabei sollte der Bund die Finanzmittel, die er für die Politik für die ländliche Entwicklung einsetzen möchte, für regionale Entwicklungsprojekte einsetzen. Die Mittelvergabe in diesem Programm sollte nach Maßgabe der Erfüllung von zwei Kriterien erfolgen. Das erste sollte zum Ausdruck bringen, ob bzw. wie gut das jeweilige Land es schafft, die Kohärenzziele in Bezug auf die ländlichen Räume zu erfüllen. Das zweite Kriterium sollte die Qualität des jeweiligen regionalen Entwicklungsprojekts zum Ausdruck bringen (Erfolgsaussichten für die Lösung besonderer räumlicher Problemlagen, Innovationsgrad, Vorbildwirkung für andere Regionen). Durch die Kombination beider Kriterien entstünde für die Länder ein Anreiz, in ihrer Politikgestaltung die gesamtstaatlichen Kohärenzziele zu berücksichtigen, und zugleich hätten in jenen Ländern, die hier schlecht abschneiden, besonders innovative regionale Konzepte dennoch eine begrenzte Chance, in die Förderung des Bundes zu gelangen.
14. Diese Ausrichtung der Politik für ländliche Räume stärkt den interregionalen Wettbewerb. Es ist dabei unvermeidlich, dass regionale Politik die Wettbewerbsfähigkeit und Standortorientierung von Wirtschaftssektoren unterschiedlich beeinflusst; denn die konkrete Förderpolitik in einer Region hat immer auch sektorale Auswirkungen. Die Grenzen regionaler Politik liegen da, wo diese durch den allgemeinen gesetzlichen Rahmen, zum Beispiel Wettbewerbs-, Umwelt- oder Raumordnungsrecht, gezogen sind.
15. Kompetenzverlagerung auf dezentrale öffentliche Entscheidungsträger sollte auch zur vermehrten Partizipation von regionalen Akteuren und zu verbesserten regionalen Governance-Strukturen führen, wie zum Beispiel zu akteursbezogenen Netzwerken und privat-öffentlichen Kooperationen. Diese neuen Organisations- und Entscheidungsstrukturen sollten gestärkt und durch wissenschaftliche Entscheidungshilfen unterstützt werden.
16. Diese empfohlene grundlegende Neuausrichtung der Politik für die ländlichen Räume würde tiefgreifende Veränderungen in der Agrarpolitik, insbesondere im Bereich der Agrarstrukturpolitik für die ländlichen Räume, nach sich ziehen. Die Verlagerung von Entscheidungs- und Finanzierungskompetenz auf die nationale und regionale Ebene würde die zentralen Budgets entlasten. Damit wären diese Budgets zu kürzen, während die regionale Finanzausstattung entsprechend zu stärken wäre.
Politikgestaltung unter den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen
Die oben dargelegten grundlegenden Reformen einer Politik für die ländlichen Räume erfordern erhebliche politische Anstrengungen und einen längeren zeitlichen Vorlauf. Solange dieser grundlegende Politikwechsel noch nicht vollzogen ist, sollte auf folgende Veränderungen hingewirkt werden:
17. Die für die regionale Entwicklung bedeutsamen Handlungsfelder sind besser aufeinander und auf die regionalen Entwicklungsziele abzustimmen, auch um inhaltliche Überschneidungen zu vermeiden. Eine Überprüfung der verwaltungstechnischen Kompetenzverteilung der für die Entwicklung ländlicher Räume relevanten Ressorts ist notwendig. Dabei sind die Schnittstellen zwischen agrarstrukturpolitischen und ressortspezifischen oder raumordnerischen Instrumenten in den vielfältigen planungsrechtlichen Vorgaben in der Raumordnung, Regional- und Kommunalentwicklung besser auszugestalten. Die Akteure der Politik und der Verwaltung sind gefordert, programmatische und strategische Orientierung für das Planungshandeln in der Region zu geben.
18. Im Rahmen der derzeitigen agrarpolitischen Programme sollte die Gebietskulisse für die regionale Förderung eingeengt und stärker auf die eigentlichen Problemregionen zugeschnitten werden. So sollten etwa agrarumweltpolitische Maßnahmen auf die Gebiete begrenzt werden, wo sie aufgrund der naturräumlichen Voraussetzungen auch tatsächlich eine positive Wirkung erzielen können.
19. In der ELER-Verordnung sollte der 3-stufige Aufbau von Strategieplanung und Umsetzung gestrafft werden. Angesichts einer bereits weitgehenden Detailvorgabe in der ELER-Verordnung selbst erscheint die Untersetzung dieser Verordnung durch einen EU-Strategieplan als Vorgabe für die nationalen Entwicklungspläne entbehrlich. Zudem sollte den Betroffenen in den ländlichen Gebieten bei der Gestaltung der Rahmenpläne von Anfang an genügend Raum für Mitsprache gegeben werden. Ebenso sollten einschränkende Vorgaben zur Mindestfinanzierung einzelner Schwerpunktbereiche fallen.
20. Der Beirat empfiehlt, umwelt- und tierschutzpolitische Anreizsysteme grundsätzlich in der 2. Säule zu verankern und dort in geeigneter Form auszubauen. Dabei sollten die bisherigen flächenbezogenen Agrarumweltprogramme stringenter auf Umwelt- und Tierschutzziele ausgerichtet werden. Dem Aufbau der 2. Säule käme auch die Rolle zu, gesellschaftlich unerwünschten Entwicklungen entgegen zu wirken, die durch die Entkopplung und den Abbau der Direktzahlungen ausgelöst werden. Diese Zielsetzung kommt in der derzeitigen Beschlusslage zur Finanzplanung für den Zeitraum 2007 bis 2013 nicht hinreichend zum Ausdruck. Vor diesem Hintergrund sollte mittelfristig Spielraum durch den Abbau der Direktzahlungen geschaffen werden. Der Beirat sieht die mittlerweile beschlossene Kürzung der Finanzausstattung der 2. Säule sehr kritisch.