Gutachten zu Leitlinien und Regeln für Agrardaten in der EU
Daten spielen in der modernen europäischen Landwirtschaft eine bedeutende Rolle. Farm-Management und Informationssysteme (FMIS), moderne Traktoren und Gerätschaften, Agrardrohnen und Roboter beruhen auf dem Austausch von Daten. Der Austausch und die Nutzung von Daten in der Landwirtschaft – man spricht von Agrardaten – hat große Potenziale. Agrardaten sind ein Schlüsselelement zur Sicherung einer nachhaltigen und resilienten europäischen Landwirtschaft.
Für die Landwirte sowie die Anbieter von Digitallösungen für die Landwirtschaft stellt sich die zentrale Frage, wer über welche Rechte und Pflichten an welchen Daten verfügt. Landwirte sowie Agrarunternehmen möchten darüber entscheiden, wer auf welche ihrer Agrardaten Zugriff erhält.
Gegenwärtiger Rechtsrahmen für Agrardaten
Tatsächlich bestehen rechtliche Rahmenbedingungen für Agrardaten im B2B-Bereich (Business to Business-Bereich) bislang nur lückenhaft. Nach geltender Rechtslage in der EU gibt es nur vereinzelt Rechtsvorschriften, die Rechte an Agrardaten im B2B-Bereich regeln. Für personenbezogene Daten natürlicher Personen trifft die EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) zwar umfangreiche Regelungen. Für das Teilen nicht-personenbezogener Daten im Agrarbereich fehlte es jedoch noch an einem zukunftsweisenden Rechtsrahmen. Dieser Lücke nahm sich das BMEL im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft an.
In der Praxis gestalten die Vertragsparteien Rechte und Pflichten an Agrardaten vertraglich aus. Die meisten Anbieter von Agrartechnologien verwenden hierzu standardisierte Vertragsbedingungen (sog. Allgemeine Geschäftsbedingungen). Die Bestimmungen dieser Verträge sind komplex und für juristische Laien oft kaum verständlich.
Der EU-Verhaltenskodex für die gemeinsame Nutzung von Agrardaten
Im Jahr 2018 stellte eine Gruppe Europäischer Verbände aus dem Agrar- und Maschinenbausektor einen Verhaltenskodex für die gemeinsame Nutzung von Agrardaten im Wege einer vertraglichen Vereinbarung auf. Er bietet eine Orientierung für die Ausgestaltung agrardatenrechtlicher Vertragsbestimmungen. Die Einhaltung des Kodex ist freiwillig.
Die Europäische Kommission skizzierte in ihrer Europäischen Datenstrategie aus dem Februar 2020 zahlreiche sektorübergreifende und sektorspezifische Maßnahmen, um einen echten Binnenmarkt für Daten zu schaffen.
Anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat das BMEL einen fachlichen Austausch zu Regeln und Leitlinien für Agrardaten durchgeführt. In einem ersten Schritt wurde die Rechtswissenschaftlerin und jetzige Richterin am Bundesverfassungsgericht Frau Prof. Dr. Ines Härtel mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Auf Grundlage des Gutachtens hat das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) die EU-Mitgliedstaaten zu ihren Erfahrungen mit dem EU-Verhaltenskodex befragt. Bei einer europäischen Konferenz am 2. und 3. Dezember 2020 diskutieren auf Einladung des BMEL die Europäische Kommission, andere EU-Mitgliedstaaten und zahlreiche Fachleute, welche Regeln bzw. Leitlinien für Agrardaten Rechtssicherheit schaffen können.
Denkbare Lösungsansätze und Rechtsstrategien
Das Gutachten von Frau Prof. Dr. Härtel ist weiter Gegenstand der öffentlichen Debatte. In dem Gutachten identifiziert die Verfasserin Defizite und Lücken des Verhaltenskodex und macht konkrete Vorschläge, wie sachgerechte rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden könnten.
Frau Prof. Dr. Härtel spricht sich für den Erlass eines EU-Rechtsaktes für Agrardaten, also einer Richtlinie oder einer Verordnung über Agrardaten, aus. Hierfür spricht, dass die Landwirtschaft im Vergleich mit anderen Wirtschaftszweigen zahlreiche Besonderheiten aufweist. Das digitale Ökosystem der Landwirtschaft bezieht sich auf offene Räume und natürliche Ressourcen - die Landwirtschaft ist vom Boden, der Umwelt, dem Klima abhängig. Außerdem sind in der gesamten EU die landwirtschaftlichen Betriebe im Durchschnitt überwiegend klein- und mittelständig geprägt. Ferner gewährleistet die Landwirtschaft das Recht auf Nahrung durch Ernährungssicherung.
Alternativ schlägt die Verfasserin vor, das sektorübergreifende Datenrecht weiterzuentwickeln und darin Sonderbestimmungen für die Landwirtschaft zu schaffen, die den Besonderheiten der Landwirtschaft Rechnung tragen. Als zentrales Element eines EU-Rechtsakts für Agrardaten sieht die Verfasserin die Regelung der digitalen Datensouveränität der Landwirte an. Statt eines Dateneigentums sollte die Datensouveränität der Landwirte geregelt werden. Die digitale Datensouveränität bedeutet – kurz gesagt – eine Selbstbestimmung der Landwirte über die Verwendung ihrer Agrarbetriebsdaten. Die Datensouveränität gibt dem Inhaber das Recht, auf die eigenen Agrardaten zuzugreifen und den Zugriff Dritter auf die Daten zu kontrollieren.
Die Verfasserin plädiert auch auf die Einführung einer neuen rechtlichen Datenkategorie, den "Agrarbetriebsdaten". Damit entfielen rechtliche Grauzonen und Abgrenzungsschwierigkeiten. Es ist oft schwierig, Agrardaten den bestehenden Datenkategorien (personenbezogene, nicht-personenbezogene Daten oder Open Data) zuzuordnen. So stellt die Verfasserin hinsichtlich der Abgrenzung zwischen personenbezogenen und nicht-personenbezogenen Daten fest, dass Agrardaten faktisch zwischen personenbezogenen und nicht-personenbezogenen Daten liegen ("hybrider Charakter").
In dem EU-Rechtsakt für Agrardaten könnten zudem Regelungen zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) im B2B-Bereich aufgenommen werden. Musterverträge oder AGB-Muster könnten dem Rechtsakt als Anhang beigefügt werden.
Auch "gute" Agrardatenplattformen könnten ein Mittel sein, um die Selbstbestimmung der Landwirte über ihre Daten sicherzustellen. Solche Datenpools oder Datenportale sind innovationsfördernd und zugleich nutzerfreundlich. Als weitere, neue Form von Datenplattformen regt die Verfasserin die Etablierung von Agrardaten-Genossenschaften an. In ihnen könnten sich Landwirte (regional oder überregional) vernetzen und hinsichtlich des Datenmanagements kooperieren.
Ferner rät die Verfasserin ein EU-weites Agrardaten-Zertifizierungssystem an. Ein EU-Agrardaten-Zertifizierungssystem weist die Einhaltung bestimmter Daten-Mindeststandards aus. In einem EU-Rechtsakt über Daten könnten Voraussetzungen für eine Zertifizierung, das Zertifizierungsverfahren und auch die Akkreditierung von Zertifizierungsstellen geregelt werden. Rechtlich sollte auch ein einheitliches EU-Agrardatensiegel verankert werden, das von zertifizierten Unternehmen geführt werden darf.
Maßnahmen und Rechtsakte auf EU-Ebene
Derzeit wird intensiv an horizontalen EU-Rechtsakten, d.h. für sämtliche Branchen geltenden EU-Rechtsakten, gearbeitet. Im Mai 2022 wurde die Verordnung (EU) 2022/868, der sog. Daten-Governance-Rechtsakt, erlassen. Er legt Bedingungen für die Weiterverwendung von Daten bestimmter Datenkategorien, die im Besitz öffentlicher Stellen sind, fest. Ferner sieht er einen Anmelde- und Aufsichtsrahmen für die Erbringung von Datenvermittlungsdiensten vor. Er setzt zudem einen Rahmen für die freiwillige Eintragung von Einrichtungen, die für altruistische Zwecke zur Verfügung gestellte Daten erheben und verarbeiten und legt einen Rahmen für die Einsetzung eines Europäischen Dateninnovationsrates fest
Im Februar 2022 legte die Europäische Kommission einen Entwurf für ein EU-Datengesetz vor (Vorschlag für eine Verordnung über harmonisierte Vorschriften für einen fairen Zugang zu Daten und deren Nutzung). Das BMEL bringt sich intensiv in die Arbeiten an der Verordnung ein und setzt sich mit großem Engagement dafür ein, dass die besonderen Belange der Land- und Ernährungswirtschaft Berücksichtigung finden.
Das Digital Europe Programm für die Jahre 2021 – 2022 sieht vorbereitende Maßnahmen für einen Datenraum für die Landwirtschaft vor. Das Hauptziel ist die Entwicklung eines sicheren und vertrauenswürdigen Datenraums, der es dem Agrarsektor ermöglicht, Daten auf transparente Art und Weise auszutauschen und auf diese zuzugreifen. Das Projekt sieht unter anderem vor, eine Bestandsaufnahme der mit dem oben erwähnten Verhaltenskodex gemachten Erfahrungen durchzuführen und ein Multi-Stakeholder-Governance-System für den Datenraum zu entwickeln.
Einige Gedanken des Gutachtens von Frau Prof. Dr. Härtel wurden inzwischen von der Europäischen Kommission im Zusammenhang mit der Vorlage eines Vorschlags für ein EU-Datengesetz aufgenommen.