"Jedes einzelne Kind, das die Chance hat, gesund alt zu werden, ist ein Gewinn für die Gesellschaft."
Interview von Bundesminister Cem Özdemir mit der "Rheinischen Post"
Frage: Herr Özdemir, Ihr Gesetzentwurf zum Schutz von Kindern vor Werbung für ungesunde Lebensmittel wurde im März bekannt, seitdem blockiert die FDP. Es gibt breite Kritik daran, warum halten Sie an dem Gesetz fest?
Cem Özdemir: Ausgangspunkt ist, dass die Zahl der Kinder mit Gewichtsproblemen seit vielen Jahren dramatisch ist. 15 Prozent der Kinder haben Übergewicht, sechs Prozent Adipositas und man kann davon ausgehen, dass sich das mit Corona verschärft hat. Die gesamtgesellschaftlichen Kosten von Adipositas belaufen sich auf 63 Milliarden Euro pro Jahr. In einer Gesellschaft, in der alle gleichberechtigt sind, muss jedes Kind, unabhängig von der Herkunft und dem Elternhaus, das Recht haben, in Würde und gesund alt zu werden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wovon ich rede.
Frage: Wie meinen Sie das?
Cem Özdemir: Ich komme aus einer bildungsfernen Familie mit Migrationshintergrund. Meine Eltern waren beide berufstätig und ich habe mich auf eigene Faust jahrelang von Pommes oder Currywurst ernährt, weil nach der Schule niemand daheim war, um Essen zu kochen. Ich kenne die Realität in vielen Familien offensichtlich besser als viele der Lobbyisten in der Hauptstadt..
Frage: Kritiker werfen Ihnen vor, über das geplante Verbot in die Familien hinein zu regieren. Sollte es nicht Sache der Eltern bleiben, über die Ernährung ihres Kindes zu entscheiden?
Cem Özdemir: Genau. Das entscheiden die Eltern, aber nicht die Werbeindustrie. Ausreichend Bewegung ist wichtig, gutes Schulessen auch. Dass Sport und Bildung allerdings von einigen Gegnern unseres Gesetzes nun als Argumente gegen unser Vorhaben ins Feld geführt werden, ist ja ein schlechter Witz. Wir brauchen alles drei. Die sogenannte Ernährungsumgebung eines Kindes, also wie ein Kind Essen lernt und wahrnimmt, prägt es ein ganzes Leben lang. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und da müssen wir ran.
Frage: Und der beste Weg führt über ein Werbeverbot?
Cem Özdemir: Wir haben in der Koalition gemeinsam verabredet, dass wir Werbung, die sich an Kinder richtet und Produkte mit zu viel Zucker, Salz oder Fett anpreist, besser regeln wollen. Diesen Auftrag setze ich um. Es geht eben nicht um herbeifantasierte Verbote von Produkten, denn jeder kann kaufen und essen, was er möchte. Mir geht es darum, dass die Industrie nicht länger eindeutig ungesunde Dinge gegenüber Kindern bewirbt – in meinem Verständnis steht Profit nicht über der Gesundheit unserer Kinder. Und die Unternehmen können ja weiter werben. Wenn sie den Fett-, Salz- oder Zuckergehalt in ihren Rezepturen reduzieren, gilt das auch für Werbung an Kinder.
Frage: Die Selbstverpflichtung der Industrie hat aus Ihrer Sicht nicht gegriffen?
Cem Özdemir: Leider nein. Ich bin ein Freund von Freiwilligkeit, aber die Ergebnisse nach all den Jahren sind ernüchternd. Und beim Ziel, den Gesundheitsschutz von Kindern zu erhöhen, mache ich keine Abstriche. In anderen Ländern wie Großbritannien hat es mit staatlicher Regulierung funktioniert, dass Fett, Zucker oder Salz in den Rezepturen drastisch reduziert wurden. Die Nachfrage nach den Produkten und der Absatz waren danach kein bisschen geringer. Mir will nicht in den Kopf, warum das bei uns in Deutschland anders sein sollte. Unsere Unternehmen sind nicht weniger innovativ als andere.
Frage: Bislang sehen Ihre Pläne vor, von 6 bis 23 Uhr im „Umfeld von Kindern“ alles an Werbung für Produkte zu verbieten, die potentiell zu Übergewicht führen können. Bleibt es dabei?
Cem Özdemir: Wir führen seit März mit den anderen Ressorts Gespräche. Wir haben Anregungen und Kritik einfließen lassen und unseren Entwurf entsprechend präzisiert. Wir konzentrieren uns bei den Sendezeiten nun auf die Kinder-Primetime – also auf die Zeitfenster, in denen besonders viele Kinder sehr viel schauen. Unser Vorschlag: Die Werbeeinschränkung für ungesunde Lebensmittel soll wochentags von 17 bis 22 Uhr, samstags zusätzlich von 8 bis 11 Uhr und sonntags von 8 bis 22 Uhr gelten. Im ersten Entwurf war 6 bis 23 Uhr an allen Tagen vorgesehen. Im Hörfunk verzichten wir auf eine Sendezeit-Regelung. Was Angebote im Internet angeht, sind alle gängigen Kanäle betroffen und auch Influencer, deren Inhalte zunehmend von Kindern konsumiert werden.
Frage: Bleibt es bei dem Plakatverbot im Umkreis von 100 Metern von Plätzen, an denen Kinder sich aufhalten?
Cem Özdemir: Wir konzentrieren uns hier auf die direkte Ernährungsumgebung der Kinder: Kitas und Schulen. Und wir stellen klar, dass es kein Verbot von Werbung für Lebensmittel in Schaufenstern gibt. Zudem weiten wir die bereits vorhandene Ausnahme von Milch und Fruchtsäften auf Joghurt aus, der nicht extra gesüßt ist. Bei allen Produkten orientieren wir uns an der wissenschaftlich fundierten Nährwerttabelle der Weltgesundheitsorganisation, die ja unter Berücksichtigung medizinischer Erkenntnisse genau dafür erarbeitet wurde..
Frage: In Großbritannien ging die Zahl von Übergewichtigen um 4,8 Prozent zurück. Ist das ein Wert, mit dem Sie auch zufrieden wären?
Cem Özdemir: Jedes einzelne Kind, das die Chance hat, gesund alt zu werden, ist ein Gewinn für die Gesellschaft.
Frage: Wie soll es jetzt weitergehen?
Cem Özdemir: Mein Wunsch ist, dass wir uns so schnell wie möglich in der Bundesregierung verständigen und bei unserem gemeinsamen Ziel – mehr Kinderschutz – im Gesetzgebungsprozess vorankommen. Ich möchte, dass das Gesetz im Gesetzgebungsprozess endlich breit beraten werden kann, damit wir auch die Stimmen der Eltern und Erzieher, der Ärztinnen, der Wissenschaft und Gesundheitsbranche hören können – und nicht nur diejenigen, die gerade im Hintergrund lobbyieren und mit sehr viel Geld große Kampagnen gegen das Gesetz fahren.
Frage: Was schlagen Sie zusätzlich vor?
Cem Özdemir: Natürlich darf dann auch gerne ein großes Bewegungsprogramm unter Einbeziehung der Länder folgen. In Deutschland gibt es immer weniger Kinder. Und wenn diese immer mehr unter Gewichtsproblemen und anderen ernährungsmitbedingten Krankheiten leiden, hat das große Auswirkungen für die Gesellschaft. Und nach dieser Woche sage ich, nicht ganz ernst gemeint, auch als Sportfan: Es ist an der Zeit zu handeln. Ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass ein Nationaltrainer über einen ausreichend großen Pool an Nachwuchstalenten verfügt, die in welcher Sportart auch immer ihre Frau und ihren Mann stehen können. (lacht)
Frage: Sie haben viele Kompromisse gemacht. Sehen Sie Ihre Ampelpartner nun im Boot?
Cem Özdemir: Wir präsentieren einen guten Vorschlag, der gerne noch ergänzt werden darf. Dann werden wir schnell ins Kabinett kommen. Es gibt viele Eltern, die auf das Gesetz warten. Ich habe ein faires Angebot gemacht, das Kritik auch aufgreift. Kinder schützen, Eltern stärken – darum geht es mir. Mit mir kann man immer reden und freue mich über lösungsorientierte Gespräche. Aber über die Gesundheit der Kinder verhandle ich nicht.
Quelle: Rheinische Post vom 25. Juni 2023
Fragen von Jan Drebes und Kerstin Münstermann