Auch die Politik kann sich nicht per Beschluss über physikalische Grenzen hinwegsetzen.
Auszüge aus dem Interview von Bundesminister Cem Özdemir mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung
Frage: Herr Özdemir, kurz vor Weihnachten sind die Landwirte sauer: Bei der Sparrunde der Koalition müssen die Landwirte besonders viel beitragen. Die Beihilfe für Agrardiesel und die Kfz-Steuer-Befreiung für land- und forstwirtschaftliche Fahrzeuge sollen gestrichen werden. Wie erklären Sie das?
Cem Özdemir: Mich hat diese Entscheidung, Agrardiesel-Beihilfe als auch Kfz-Steuer-Befreiung zu streichen, auch überrascht, weil ich ausdrücklich davor gewarnt habe, und deshalb kann ich den Ärger in der Landwirtschaft gut verstehen. Völlig klar, dass in dieser schwierigen Haushaltslage jeder einen Beitrag leisten muss, doch hier geht es um rund 900 Millionen Euro weniger für Land- und Forstwirtschaft jedes Jahr. Ich habe immer davor gewarnt, unsere Landwirtschaft überproportional zu belasten. Nehmen Sie die Agrardiesel-Beihilfe: Das haben wir nach einem Hinweis des Finanzministeriums schon im Sommer geprüft und dann politisch verworfen, weil die Belastungen zu hoch sind. Für unsere Landwirtschaft bedeutet das außerdem Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen Ländern, die vergleichbare Subventionierungen anbieten. Und das habe ich auch der Branche gesagt, die ich nach der Entscheidung umgehend eingeladen habe.
Frage: Den Agrardiesel als klimaschädliche Subvention zu streichen könnte man auch als ökologisches Umsteuern sehen, oder?
Cem Özdemir: Natürlich muss es grundsätzlich möglich sein, über den Abbau von klimaschädlichen Subventionen zu diskutieren. Mir würden da allerdings andere Beispiele einfallen. Bei den schweren Landmaschinen ist doch das Problem, dass es schlichtweg keine Elektroalternativen gibt wie etwa im Pkw-Bereich. Das ist die Realität und daran sollten wir uns orientieren. Auch die Politik kann sich halt nicht per Beschluss über physikalische Grenzen hinwegsetzen. Ich setze mich dafür ein, dass wir uns alle nochmals sehr genau überlegen, welche Belastungen für wen tragbar sind.
Frage: Es klingt nicht ganz nach Weihnachtsstimmung bei Ihnen. Dabei gäbe es da schon auch ein Thema: Weihnachten ist oft verbunden mit zu süß, zu fettig, zu viel. Stehen Ihnen da als Ernährungsminister nicht die Haare zu Berge? Es widerspricht der Ernährungsstrategie Ihres Hauses.
Cem Özdemir: Erst mal ist Weihnachten das Fest der Liebe, das wollen wir nicht vergessen. Es ist eine gute Gelegenheit, sich Zeit füreinander zu nehmen und auch an die zu denken, an die man sonst weniger denkt. Außerdem ist es eine Zeit von Ritualen. Das mag ich.
Frage: Warum muss die Bundesregierung beim Thema Ernährung überhaupt eingreifen?
Cem Özdemir: Ich will, dass alle die Möglichkeit haben, sich gesund und gerne auch nachhaltig zu ernähren. Wenn ich mir anschaue, was in manchen Schulen oder Krankenhäusern so serviert wird, dann ist dagelinde gesagt noch Luft nach oben. Wer eine echte Wahl haben will, braucht Angebote. Und genau hier setzt unsere Ernährungsstrategie an. Dafür haben wir uns von Profis und der Wissenschaft beraten lassen.
Frage: Wie ist das mit der Currywurst in der Kantine? Rauf oder runter von der Karte?
Cem Özdemir: Wer Currywurst essen will, soll das gerne machen. Wichtig ist doch, dass es auch gesunde Speisen gibt, die gut schmecken und so als Alternative angenommen werden. Es liegt kein Segen darin, einen Kulturkampf ums Fleisch zu beschwören. Lasst die Leute doch einfach selbst entscheiden. Meine Erfahrung ist, dass die Menschen da viel weiter sind. Kürzlich hat mir ein Mann beim Fleischkongress erzählt, dass er Metzger ist und seine Frau Vegetarierin - und sich beide lieben, so wie sie sind. Das ist mein Deutschland, offen und tolerant.
Frage: Was kommt beim Ernährungsminister an Weihnachten auf den Tisch?
Cem Özdemir: Meine Kinder sind über Weihnachten bei ihrer Verwandtschaft in Argentinien. Ich bleibe daheim und nutze die Zeit, um Freundschaften zu pflegen und das ein oder andere Buch zu lesen, Platten zu hören und Filme anzuschauen. Ich gehe quasi von Einladung zu Einladung. Was es da gibt, weiß ich gar nicht. Aber ich gehe davon aus, dass ich irgendwas Leckeres kriege - dafür bringe ich den Wein mit.
Frage: Sie wollen gerne die Werbung für Chips, Schokoriegel und Fertigpizza und andere sehr fette, süße oder salzige Lebensmittel einschränken, die Kinder erreicht. Die FDP hat etwas dagegen. Wird das noch was in dieser Wahlperiode?
Cem Özdemir: Bis zu zwei Millionen Kinder sind in Deutschland krankhaft übergewichtig, der Großteil bleibt es ein Leben lang. Das hat drastische Konsequenzen für ihre Lebensqualität und Lebenserwartung und auch für unser Gesundheitswesen. Nichtstun ist keine Alternative. Wir müssen das Problem von mehreren Seiten angehen.
Frage: Ihre Gegner verweisen auf andere Maßnahmen.
Cem Özdemir: Na klar braucht es mehr Bewegungsangebote und Aufklärung, gesundes Essen in Kita und Schule. Aber das heißt ja nicht, dass wir deshalb keine Regeln für die Werbung brauchen, die stark beeinflusst, wie unsere Kinder sich ernähren. Es kann doch nicht richtig sein, dass Frühstückscerealien bis zu 50 Prozent Zucker enthalten und die Werbung dann unsere Kinder hinter die Fichte führt. Ich bin kompromissbereit, aber das Ziel von mehr Kinderschutz steht. Ich bin guter Dinge, dass wir das hinbekommen.
Frage: Die EU will die Hürden für den Einsatz der neuen Gentechnik in der Landwirtschaft lockern. Wie können Verbraucher künftig sicher sein, dass sie beim Einkaufen Produkte mit und ohne Gentechnik unterscheiden können?
Cem Özdemir: Das Thema berührt sehr viele Menschen. Es ist daher wichtig, dass diese Unterscheidung weiter klar möglich ist. Auch hier geht es mir um Wahlfreiheit, die Menschen sollen wissen können, was sie essen. Es gibt einen milliardenschweren Markt für gentechnikfreie Produkte, von dem unsere Landwirtinnen und Landwirte und die Lebensmittelbranche profitieren. Es kann kein Interesse sein, Existenzgrundlagen zu zerstören. Wer ohne Gentechnik wirtschaften will, muss das genauso tun können wie diejenigen, die ein anderes Geschäftsmodell verfolgen. Wichtig ist außerdem, dass es keine Biopatente auf Saatgut gibt, bei denen einige wenige sich eine goldene Nase auf Kosten unserer Bäuerinnen und Bauern verdienen.
Quelle: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 18. Dezember 2023
Fragen von Daniela Vates