"Mir geht es darum, dass alle die Chance haben, gesund alt zu werden"

Rede von Bundesminister Cem Özdemir beim Verbraucherpolitischen Forum des vzbv , 26. Januar 2023

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

vielen Dank für die Einladung! Lassen Sie uns übers Essen reden. Beim Essen ist jede und jeder Experte. Ich stelle mal die steile These auf, die allermeisten von uns hier essen… Beim Essen wird’s schnell emotional. Und erst recht dann, wenn die Politik über Essen spricht. Schon allein das Wort "gesund" kann ja schon dazu führen, dass sich mancher aufregt oder bevormundet fühlt. Und wenn der Minister dann auch noch Vegetarier ist, wird’s nicht weniger heikel. Ich kenne wenige politische Bereiche, die kommunikativ so herausfordernd sind wie Ernährung und Essen. Besonders dann, wenn man für Veränderungen werben möchte.

Aber der Punkt ist ja gerade: Die Politik macht diese Veränderungen gar nicht, sie finden in unserer Gesellschaft schon längst statt! Wie und was wir essen, ändert sich ständig. Wir essen anders als unsere Eltern. Und unsere Kinder haben wieder andere Vorstellungen und Erwartungen als ihre Eltern und Großeltern. Vielleicht kennen es manche von Ihnen von Familienfeiern, wenn unterschiedliche Generationen zusammenkommen. Da kann es inzwischen schon mal vorkommen, dass drei verschiedene Gerichte vorbereitet werden – mit Fleisch, vegetarisch und vegan. Wobei die anekdotische Frage "Also auch kein Hühnchen? Nein, Oma, auch kein Hühnchen" − ja von schon fast so zum geflügelten Wort geworden ist, wie mancher Spruch von Loriot oder Monty Python. Gerade bei Jüngeren ist Ernährung durchaus auch eine politische Frage, die in einen größeren Kontext von Mensch, Natur und Klima gestellt wird.

Ein gutes Beispiel für Veränderungen, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden haben, ist die Ernährung von Kindern. Noch bis in die 80er Jahre hinein haben Eltern ihre Babys mit zuckersüßem Tee ins Bett gebracht. Damals war man sich auch einig: "Babyspeck" verwächst sich. Und früher hieß es "Schwangere müssen für zwei essen". Heute sehen wir das etwas differenzierter. Denn inzwischen wissen wir, wie groß der Einfluss der ersten 1.000 Tage im Leben eines Menschen für das spätere Essverhalten ist.

Und auch der Zusammenhang von Ernährung und Umwelt- und Klimaschutz ist immer besser erforscht. Wie und was bei uns auf den Tisch kommt, hat weitreichende Konsequenzen − auch für Länder und Regionen in anderen Teilen der Welt. Das kann heute keiner mehr bestreiten. Jedenfalls nicht, wenn man in Debatten ernst genommen werden will – für alle anderen gibt es Twitter, habe ich manchmal den Eindruck. Es ist nun mal eine Tatsache: Es macht für das Klima einen Unterschied, ob ich Kichererbsen aus Deutschland oder ein Steak aus Argentinien esse. Meine Frau hört das nicht gerne, sie kommt aus Argentinien, aber da muss ich jetzt durch. Und es ist ja keine Erfindung des Ernährungsministers, dass wir auch unsere Ernährungsweise ändern müssen, um die Klimakrise und das Artensterben zu stoppen. Das basiert auf fundierten Erkenntnissen einer unvoreingenommenen Wissenschaft. Und darauf wiederum basiert auch die so genannte Planetary Health Diet. Damit haben wir eine wissenschaftsbasierte Grundlage, wie wir die großen Herausforderungen der Zukunft quasi vom Teller aus adressieren. Übrigens: Sehr wohl mit Fleisch und Fisch auf dem Teller. Wie so oft macht die Menge macht den Unterschied. Und auch wenn ich Vegetarier bin, werde ich das Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung nicht in Soja-Würstchen-Ministerium umbenennen! 

Meine Damen, meine Herren,

ich sehe es als meine Verantwortung an, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse und bereits stattfindende Veränderungen auch in einer guten Ernährungspolitik niederschlagen. Die größte Herausforderung ist dabei, wirklich alle Menschen in Deutschland zu erreichen − ungeachtet der Bildung, Herkunft oder des Einkommens. In Deutschland sind etwa 60 Prozent der Männer, fast die Hälfte der Frauen und fast jedes sechste Kind übergewichtig. Studien deuten darauf hin, dass sich die Situation seit Beginn der Corona-Pandemie noch verschärft hat. Dabei sind laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage Kinder und Jugendliche aus Familien mit geringem Einkommen doppelt so oft von einer ungesunden Gewichtszunahme betroffen wie Kinder und Jugendliche aus Familien mit hohem Einkommen. Es wäre doch unverantwortlich, als Regierung davor die Augen zu verschließen. Die Ernährungsstrategie der Bundesregierung soll insbesondere Kinder in den Blick nehmen, aber auch Menschen aus armutsgefährdeten Haushalten und Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Kurz vor Weihnachten haben wir die Eckpunkte der Strategie im Bundeskabinett verabschiedet. Die ARD hat bei der Berichterstattung von der "Deutschland-Diät" gesprochen. Damit kann ich leben, wenn zum Ausdruck kommt, dass wir wirklich alle Menschen in Deutschland erreichen wollen. Gleichzeitig überschätzt der Begriff "Diät" meine Einflussmöglichkeiten natürlich maßlos. Er suggeriert etwas, was ich gerade nicht möchte – denn jede oder jeder soll nach wie vor essen, was sie oder er möchte. Aber nicht jeder, der sich nicht gut ernährt, will es auch oder ist gar selbst daran schuld. Deshalb müssen wir die Rahmenbedingungen ändern: Es muss im Alltag schlicht leichter werden, gut zu essen! Essen entscheidet mit über faire Lebenschancen! Mir geht es darum, dass alle die Chance haben, gesund alt zu werden. Das ist meine Motivation nicht nur Minister für Ernährung zu sein, sondern auch Minister für gutes Essen!

Das heißt im Einzelnen: Die Ernährung in Deutschland soll stärker pflanzenbetont sein. Mit unserem Programm zur Innovationsförderung werden wir in den kommenden drei Jahren eine Reihe von Projekten fördern. Sie sollen einen Beitrag dazu leisten, dass wir alternative Proteinquellen künftig noch besser und in größerem Maßstab für unsere Ernährung nutzen können Außerdem fördern wir mit unserer Eiweißpflanzenstrategie den Anbau heimischer Eiweißpflanzen wie Ackerbohne, Erbse oder Lupine. Damit steigern wir die Eiweißversorgung aus heimischer Produktion, stärken regionale Wertschöpfungsketten und verbessern den Schutz unserer natürlichen Ressourcen. Außerdem braucht es gesundes und nachhaltiges Essen in Kitas, Schulen, Krankenhäusern und Seniorenheimen. Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz fordert in seinem Gutachten "Politik für eine nachhaltigere Ernährung" zurecht einen "Systemwechsel in der Kita- und Schulverpflegung".

Es hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun, wenn Arbeiterinnen und Arbeiter sich darauf verlassen können, dass sowohl ihre Kinder in Kita und Schule als auch sie selbst in der Kantine jederzeit gesundes und nachhaltiges Essen bekommen. Wir wollen den Anteil an saisonal-regional und ökologisch-nachhaltig erzeugten Lebensmitteln in der Gemeinschaftsverpflegung erhöhen. Dazu planen wir unter anderem den Modellregionenwettbewerb "Ernährungswende in der Region" und weitere Förderprojekte für die Gemeinschaftsverpflegung. Und in der Gemeinschaftsverpflegung sollen die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung bis 2030 verbindlich werden.

Auch bei den Rezepturen von Lebensmitteln muss sich was tun. Verarbeitete Lebensmittel enthalten nach wie vor oftmals hohe Mengen an Zucker, Fetten oder Salz. Reduktionspotentiale sehe ich noch in diversen Bereichen, beispielsweise bei den Salzgehalten in Backwaren und Fleischerzeugnissen oder den Zuckergehalten von Produkten, die speziell Kinder zu sich nehmen. Hier wünsche ich mir von der Wirtschaft mehr Tempo, mehr Ehrgeiz. Wir werden unsererseits den Prozess vorantreiben, indem wir wissenschaftlich fundierte und auf Zielgruppen abgestimmte Reduktionsziele schaffen. Parallel arbeiten wir mit Hochdruck an neuen Regeln für die Bewerbung von Lebensmitteln mit viel Zucker, Fett und Salz gegenüber Kindern. Denn Werbung hat als Teil der prägenden Ernährungsumgebung einen bedeutenden Einfluss gerade auf Kinder unter 14 Jahren. Kinder, die Medien nutzen, sehen im Schnitt 15 Werbespots mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt. 

Meine Damen, meine Herren,

wir haben uns für den Bereich der Ernährung eine Menge vorgenommen. Mehr Gemüse und Obst und verstärkt Bio-Lebensmittel. Mehr Gerechtigkeit bei der Ernährung und mehr Nachhaltigkeit in der gesamten Land- und Ernährungswirtschaft. Und ich freue mich natürlich, dass wir beim Wandel unserer Land- und Ernährungswirtschaft in Deutschland auf den Verbraucherzentrale Bundesverband setzen können. Als Partner – und auch ausdrücklich als kritischer Partner. Ich möchte an dieser Stelle dem vzbv ausdrücklich für seine wertvolle Arbeit danken. Wir können uns glücklich schätzen, dass es in Deutschland eine so starke Stimme des Verbraucherschutzes gibt.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch eine gute Zeit hier auf der IGW.

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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