Das Recht auf angemessene Nahrung ist ein völkerrechtlich verankertes Menschenrecht.

Rede des Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir beim Tropentag am 20. September 2023 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

ich bin heute sehr gern bei Ihnen an der Humboldt-Universität zur Eröffnung des diesjährigen Tropentages. Alexander von Humboldts Biografie spiegelt sich hier ja ziemlich genau wider: Sie kommen aus aller Welt und haben geballte wissenschaftliche Expertise aus verschiedenen Forschungsfeldern im Gepäck. Ich kann mir vorstellen, dass ihm das sehr gefallen hätte. Sie sind hier an einem Ort, der in bester wissenschaftlicher Tradition steht, um Wege für den unausweichlichen Veränderungsprozess unserer Agrar- und Ernährungssysteme aufzuzeigen. Dieser Ort ist auch deshalb besonders, weil hier durch Albrecht Daniel Thaer die sogenannten Landwirtschaftswissenschaften überhaupt erst maßgeblich geprägt worden sind.

Ich freue mich auch sehr, dass vor allem die jungen Forscherinnen und Forscher aufgefordert sind, ihre Ideen hier einzubringen. Sie, ich schaue in junge Gesichter, haben noch sehr viel Zukunft vor sich. Das sage ich nicht unbedingt als mittelalter Mann oder mit Neid. Sondern als ein sehr zuversichtlicher Minister mit Vertrauen in Sie. Zukunft kann man gestalten – im Gegensatz zur Vergangenheit. Tun Sie das!

Das Recht auf angemessene Nahrung ist ein völkerrechtlich verankertes Menschenrecht. Die Wahrheit ist: Jeder zehnte Mensch auf unserem Globus hungert. Rund ein Drittel der Weltbevölkerung hat keinen zuverlässigen und sicheren Zugang zu angemessener und ausreichender Ernährung. Vor 2015 gingen diese Zahlen eine lange Zeit zurück. Doch seither hat uns ein Mix aus Konflikten, Kriegen, die Klima- und Biodiversitätskrise und dann noch die Pandemie zurückgeworfen. Die Bilder der Überflutungen in Libyen haben wir alle vor Augen, auch wenn der "Faktor Mensch" hier eine Rolle zu spielen scheint (um es höflich auszudrücken). Um das SDG2-Ziel "Kein Hunger" bis 2030 zu erreichen, bleiben uns noch acht Ernten – die diesjährige eingerechnet.

Und so fühlt es sich schnell an wie Sisyphos. Der rollt mühsam den gewaltigen Felsblock den Berg hoch, nur, damit er ihm sofort wieder entgleitet. Aber ich bin Optimist und glaube fest daran: Wir haben, im Gegensatz zu Sisyphos, unser Schicksal selbst in der Hand. Kriege, Krisen und gerade auch Hunger sind ohne Frage Geißelnehmer, aber menschengemacht. Wir sind nicht ohnmächtig: Mit unserem Handeln oder Nichthandeln, mithilfe von Forschung und Wissenschaft können wir einen Unterschied machen und letztlich alle gewinnen.

Die Frage ist, wie genau? Wir brauchen zwei Antworten – eine kurzfristige und eine langfristige: Kurzfristig braucht es humanitäre Hilfe, wo es nur geht – um Menschenleben zu retten. Mein Ministerium beispielsweise hat mit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Lebensmittellieferungen zu den Menschen gebracht, die am dringendsten darauf angewiesen waren. Die German Food Bridge begann bereits eine Woche nach Kriegsbeginn.

Aber kurzfristige humanitäre Hilfe und Geld allein werden Hunger und Fehlernährung nicht aus unserer Welt schaffen. Wir müssen schon auch grundsätzlich etwas anders und dadurch langfristig besser machen. Wir müssen, gemeinsam mit Ihnen, Wissenschaftlerinnen und Forschern, und der Zivilgesellschaft Wege finden, um klimafreundlicher und klimaresilienter zu produzieren; standortangepasst, mit agrarökologischem Kompass. Denn wir müssen Abhängigkeiten abbauen und die Ernährungssouveränität stärken. Wir brauchen starke globale Partnerschaften.

Ich bin überzeugt: Wir müssen die Art und Weise, wie wir Lebensmittel erzeugen, verarbeiten, konsumieren hinterfragen, bessere Alternativen erforschen und den gesamten Prozess nachhaltiger gestalten. Denn weltweit betrachtet: Es gibt genug Lebensmittel – nur eben nicht da, wo sie gebraucht werden. Wir nutzen vorhandene Anbauflächen nicht immer dafür, dass Menschen ihren Hunger stillen können. Wir nutzen diese wertvolle Fläche zu häufig für Tank, Trog oder Tonne. Wir nutzen sie zu häufig gar nicht, oder mit Sorten, die für ihre Umgebung eigentlich nicht geeignet sind. Wir stellen Lebensmittel zudem oft so her, dass wir uns auf lange Sicht den Boden unter den Füßen wegziehen. Eigentlich wollen wir aber dafür sorgen, dass unsere Kinder und Kindeskinder sichere Ernten einfahren können. Also müssen wir ressourcenschonender, klimaschonender, kurz: nachhaltiger produzieren. Wir müssen agrarökologische Verfahren stärken, natürliche Abläufe nutzen und geschlossene Kreisläufe fördern. Kurz: Wir müssen nachhaltiger arbeiten.

Denn die drei Dimensionen Ernährung, Landwirtschaft und Klima beeinflussen sich gegenseitig. Wir müssen sie stärker zusammendenken. Daran arbeiten wir hier in Deutschland, indem wir etwa unsere Bauern dabei unterstützen, mehr Bio auf die Äcker und mehr Tierwohl in die Ställe zu bringen. Daran arbeiten wir international gemeinsam mit gut 40 weiteren Länder in der "Koalition für Agrarökologie". Im Rahmen unseres Global Forum for Food and Agriculture, kurz GFFA, das jährlich im Rahmen der Grünen Woche in Berlin stattfindet und bei dem es im kommenden Jahr um "Ernährungssysteme der Zukunft" gehen wird. Daran arbeiten wir mit unserer Konferenzreihe "Politik gegen Hunger", bei der konkrete Empfehlungen für rechtebasierte Politikansätze in die Umsetzung gebracht und damit verbreitet werden. Zudem steht bei unserer internationalen Projektarbeit das Recht auf Nahrung im Mittelpunkt der Aktivitäten.

Mit unserem Forschungs-Förderprogramm im Bereich Welternährung wird der Schwerpunkt auf Agrarökologie liegen. Dazu wird es im kommenden Jahr ein weiteres Förderprojekt des BMEL geben. Und auch mit unseren Partnerländern arbeiten wir daran, die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 zu beschleunigen.

Wenn wir eine Welt ohne Hunger schaffen wollen, dann geht es aber nicht nur darum, ökologischer zu arbeiten. Dann müssen wir auch: Die Bäuerinnen und Bauern vor Ort stärken; denn es sind Kleinbauern, die zur Hälfte die Menschheit ernähren. Dann müssen wir die Rolle der Frau in der Landwirtschaft stärken; denn, wenn Bäuerinnen den gleichen Zugang zu Ressourcen hätten, könnten die Ernteerträge um fast ein Drittel gesteigert werden. Und es gilt, Länder dabei zu unterstützen, ihre Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten abzubauen und ihre Ernährungssouveränität zu stärken. Ein Unterfangen, das wir nicht allein in der Hand haben.

Auch hier gilt: Wir brauchen Forschung, Praxistransfer und Kooperation. Und da kommen Sie hier ins Spiel. Sie werden im Rahmen des Tropentages Ihre Ideen, Forschungsergebnisse und Erkenntnisse miteinander teilen, diskutieren und Synergien schaffen. Auch mein Ministerium wird wie bereits seit vielen Jahren mit einer eigenen Session zum Thema: "Leveraging human rights-based action towards equitable food" vertreten sein. Vertreterinnen aus BMEL-geförderten Forschungsprojekten, der FAO und eines Consultingunternehmens geben Einblick in das Engagement meines Ministeriums zur Ernährungssicherung – vor allem im Hinblick auf menschenrechtsbasierte Ansätze.

Vielen Dank an alle hieran beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!

Insgesamt ist es für mich auch eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass wir künftig freie und faire Handelsbeziehungen und eine verlässliche Zusammenarbeit schaffen. Ein offener und transparenter, regel- und wertebasierter Agrarhandel ist eine wichtige Voraussetzung, um Ernährung global zu sichern. Bis vor einigen Jahren eine vermeintliche Selbstverständlichkeit, die mehr und mehr aus verschiedenen Himmelsrichtungen torpediert wird. Wir müssen Wertschöpfungsketten resilienter – und dadurch krisenfest – machen. Das kann gelingen, indem wir auf ein ausgewogenes Gleichgewicht setzen – zwischen regionaler heimischer Produktion und Importen aus Drittländern.

Wesentlich hierbei ist eine kohärente Handelspolitik – auch gemeinsam mit den Ländern des globalen Südens –, um Nachhaltigkeit als Standard auch international zu etablieren. Denn: Es braucht Regeln, die für faire Arbeitsbedingungen, gesundheitlichen Schutz und den Schutz bestimmter Umweltbelange sorgen – etwa dem Erhalt und der Stärkung von Wäldern oder den Umgang mit Schadstoffen. Genau das ist das Ziel des deutschen Lieferkettengesetzes, das seit Anfang des Jahres gilt.

Es gibt Mittel, es gibt Ansätze, es gibt Personen wie Sie, die täglich daran arbeiten, gerechte Ernährung weltweit zur Selbstverständlichkeit zu machen. Ich danke Ihnen dafür! Nun wünsche ich Ihnen für Ihre Präsentationen im Rahmen des Tropentages viel Erfolg, gute Erkenntnisse. Nutzen Sie die wertvolle Möglichkeit der Vernetzung. Denn nur gemeinsam kann es gelingen: die Verbesserung der globalen Agrar- und Ernährungssysteme im Sinne der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030.

Vielen Dank!

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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