Nicht jeder, der sich ungesund ernährt, will das auch oder ist selbst schuld
Rede von Bundesminister Cem Özdemir zur Eröffnung der Messe Slow Food/Fair Handeln am 4. April 2024 in Stuttgart
Es gilt das gesprochene Wort!
Anrede,
"Mit Messer und Gabel stimmen wir dreimal täglich, bei jeder Mahlzeit, auch ein wenig über die Zukunft der Welt ab."
Dieser Satz entstammt der Philosophie von Slow Food Deutschland – und trefflicher kann man es wohl kaum auf den Punkt bringen. Wie und was bei uns auf den Tisch kommt, hat weitreichende Konsequenzen – für uns und unsere Zukunft, für Umwelt und Klima, für Menschen und Regionen in anderen Teilen unserer gemeinsamen Welt.
Und da habe ich eine gute Nachricht:
Ein Viertel der Treibhausgasemissionen in Deutschland gehen auf unser Agrar- und Ernährungssystem zurück. Jetzt fragen Sie sich vermutlich, was daran eine gute Nachricht sein soll. Nun, das kommt ganz auf die Perspektive an. Denn wenn ein Viertel der Treibhausgasemissionen in Deutschland etwas mit unserer Ernährung zu tun hat, dann steckt darin ja auch eine große Chance für den Wandel. Denn wie wir unsere Lebensmittel herstellen und uns ernähren, haben wir selbst in der Hand – da sind wir eben alles andere als machtlos.
Meine Damen, meine Herren,
wir sind uns einig, dass in Deutschland jede und jeder selbst entscheidet, was er oder sie essen und trinken möchte – das geht mich als Minister gar nichts an. Aber tatsächlich ist die Frage berechtigt: Wie sehr soll oder gar muss sich der Staat einmischen, wenn es um Ernährung geht? Die einfache Antwort: So wenig wie möglich, so viel wie nötig. Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung sind grundlegend für unsere Identität und unser Zusammenleben – auch beim Essen und Trinken.
Aber erstens: Nicht jeder, der sich ungesund ernährt, will das auch oder ist selbst schuld. Das hat auch etwas damit zu tun, welche Möglichkeiten man im Alltag hat und ob echte Wahlfreiheit besteht – ob in der Schule, Mensa oder Kantine.
Und zweitens: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt – und das gilt in der Gegenwart, aber auch mit Blick auf die Zukunft.
Gerade die junge Generation weiß das. Sie treibt den Wandel mit ihren Protesten und bewussten Konsumentscheidungen an. Für viele Jüngere ist Essen auch eine politische Angelegenheit, die sie in einen größeren Kontext von Mensch, Natur und Klima stellen. Und auch das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu positioniert. Es hat nicht nur im November 2023 ein bedeutendes Urteil zum Haushalt gesprochen, sondern schon im April 2021. Da hat es festgestellt, dass wir in der Gegenwart CO2-Emmissionen einsparen müssen, damit auch die Jüngeren und nachfolgende Generationen in Freiheit leben können – kurzum: das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgetragen, dass wir bessere Vorfahren werden müssen.
Und die Slow Food und Fair Handeln sind ein sehr guter Ort, um zu erfahren und zu lernen, wie wir das gemeinsam schaffen können. Und auch deshalb freue ich mich sehr, bei Ihnen zu sein – noch dazu natürlich im schönen Stuttgart. Aber es geht nicht darum, dass wir es einfach irgendwie schaffen, bessere Vorfahren zu werden – sondern nachhaltig und fair, mit regionaler Wertschöpfung und wirtschaftlich profitabel. Und nicht zuletzt auch mit Lebensfreude und Genuss! Dass das alles sehr wohl zusammengeht, dafür steht diese Messe wie kaum eine andere. Es geht mir ausdrücklich um Nachhaltigkeit als Geschäftsmodell, mit dem Sie als Unternehmerinnen und Unternehmer den Märkten eine Richtung geben können. Es geht mir um Nachhaltigkeit als Geschäftsmodell, mit dem Sie Gewinne erzielen, Arbeitsplätze schaffen und Innovationen auf den Markt bringen können.
Um das zu schaffen, erwarten Sie natürlich zurecht, dass die Politik dafür einen planbaren Rahmen gestaltet, in dem Sie unternehmerische Spielräume und Freiheiten nutzen können. Deshalb eint Bund und Länder das Ziel, gerade bei Bürokratie Erleichterungen zu schaffen. Ich weiß, das haben Sie schon oft gehört. Aber ich habe den Eindruck, dass die Botschaft jetzt wirklich angekommen ist. Wir alle – EU, Bund, Länder und Kommunen – stehen da in der Pflicht. Ich arbeite in meinem Geschäftsbereich daran. Der Umgang mit Bürokratie beinhaltet sicher auch eine grundsätzliche Verständigung, was der Staat regeln und kontrollieren soll. Denn machen wir uns nichts vor: Bürokratieabbau steht auch vor der Herausforderung, Regelungen abzubauen oder gar nicht erst einzuführen – die aber eingefordert werden, sobald in einem konkreten Fall Missstände auftreten. Da sollten wir alle ehrlich miteinander sein. Das Ziel muss sein, dass Bürokratie und Verwaltung gewissermaßen als Service verstanden werden – effizient und praxistauglich, auch durch einfache digitalisierte Verfahren. So kann auch das Vertrauen in den Staat gestärkt werden.
Dabei braucht es Maß und Mitte – und es besorgt mich hier schon, dass jetzt unter der Überschrift des Bürokratieabbaus gerade in Brüssel das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Regelungen für Umwelt- und Artenschutz sind eben keine unnötige Bürokratie. Man geht da leider immer in die Extreme.
Jüngst hat man bei der notwendigen Reduktion von Pflanzenschutzmitteln eher praxisferne und überambitionierte Vorschläge gemacht (SUR). Da ist man übers Ziel hinausgeschossen. Jetzt geht man ins andere Extrem und schleift Arten- und Klimaschutz. Man kann so manches sicher einfacher und besser machen, aber auf gute Regelungen für Umwelt- und Artenschutz zu verzichten, ist ganz sicher keine nachhaltige Lösung, um auch noch in 10, 20 und 50 Jahren gute Ernten einzufahren.
Damit machen wir uns ganz sicher nicht zu guten Vorfahren. Deshalb wird uns das auch in den kommenden Monaten und in dieser Legislatur noch intensiv beschäftigen – denn auch hierbei entscheidet sich, ob Nachhaltigkeit Märkten einen Rahmen gibt, Anreize setzt und wirtschaftlich ein Erfolgsmodell wird.
Als Bundesregierung haben wir verschiedene Maßnahmen auf den Weg gebracht, die die Land- und Ernährungswirtschaft dabei unterstützen sollen, Nachhaltigkeit zu einer Erfolgsgeschichte zu machen. Dazu gehört auch die im Januar vom Bundeskabinett verabschiedete Ernährungsstrategie der Bundesregierung.
Auch Slow Food Deutschland und viele andere Stakeholder der Branche haben sich in den Entstehungsprozess eingebracht. Es ist ausdrücklich eine Strategie des Ermöglichens. Wir wollen dazu beitragen, dass es in Gemeinschaftseinrichtungen wie Kitas, Schulen, Kantinen und Krankenhäusern, aber auch in Supermärkten eine gute, ausgewogene Auswahl gibt. Auch die Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung geben uns hier Rückenwind. Die Menschen sollen es leichter haben, gut und gesund zu essen, wenn sie es wollen. Es geht um echte Wahlfreiheit. Ich finde, das ist auch eine Frage des Respekts gegenüber den Menschen, die an diesen Orten Tag für Tag ihre Mahlzeiten einnehmen oder ihre Lebensmittel einkaufen.
Die so genannte Außer-Haus-Verpflegung ist eine Riesenchance für den Wandel. Wir sprechen hier von 40 Millionen Mahlzeiten, die täglich ausgeben werden. Natürlich muss der Staat da auch als gutes Beispiel vorangehen. Deshalb wollen wir den Bio-Anteil in den Kantinen der Bundesverwaltung sowie anderen öffentlichen Einrichtungen erhöhen. Zu diesem Zweck fördern wir auch entsprechende Beratungsangebote durch das Bundesprogramm Ökologischer Landbau (BÖL). Mit unserem neuen Bio-Logo für die Außer-Haus-Verpflegung kann man künftig auf einen Blick erkennen, wie hoch der Anteil der verwendeten Bio-Lebensmittel ist.
Ich begrüße es übrigens ausdrücklich, dass inzwischen auch die Kolleginnen und Kollegen der Union die Vorteile von Bio erläutern und zum Beispiel für mehr regionales Essen und Bio-Lebensmittel in Kantinen werben. Gute Ziele sollte man immer unterstützen. Erst kommt die Sache, dann die Partei – das sollten wir alle immer so machen und uns auch immer daran erinnern.
Wenn es darum geht, gute Vorfahren zu werden, dann spielt die ökologische Landwirtschaft eine herausragende Rolle. Wir unterstützen die ökologische Land- und Lebensmittelwirtschaft, weil diese Unterstützung im gesellschaftlichen Interesse ist. Sie alle kennen die Vorteile von Öko, aber man kann nicht oft genug darüber reden, damit es sich verbreitet, denn es ist nicht überall bekannt. Eine größere Artenvielfalt auf den Äckern und daneben, halbierte Treibhausgas-Emissionen beim Pflanzenbau, Tierhaltung mit mehr Tierwohl, mehr Humus, fruchtbare Böden und Kohlenstoffspeicherung. Es gibt noch einiges zu tun, damit wir unser Ziel von 30 Prozent Bio bis 2030 erreichen. Das betrifft die gesamte Wertschöpfungskette – von der Erzeugung über die Verarbeitung und den Verkauf bis zum Verbrauch. Wir haben deshalb aus guten Gründen eine Bio-Strategie 2030 auf den Weg gebracht und eine Bio-Info-Offensive gestartet.
Ein Grund hierfür ist auch, dass vieles, was auf Öko-Betrieben erfunden und erprobt wird, danach in die breite Anwendung übergeht. Von diesem Ideenreichtum und Engagement profitiert die gesamte Landwirtschaft. Das gilt auch für verarbeitende Betriebe, die oft Vorreiter im nachhaltigen Handeln sind und zeigen wie ganzheitliches Wirtschaften funktionieren kann. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir die Forschungsprogramme stärker auf Öko ausrichten. Denn auch bei Bio brauchen wir mehr Wissen als bisher, um das ganze Potenzial auszuschöpfen. Und deshalb bin ich froh, dass wir trotz der angespannten Haushaltslage die Mittel für das Bundesprogramm Ökologischer Landbau erhöhen konnten. Dazu gehört auch, dass wir unsere Eiweißpflanzenstrategie gemeinsam mit allen relevanten Stakeholdern weiterentwickeln und auch hier die Forschung auf diesem Gebiet gezielt fördern.
Es ist in diesem Zusammenhang auch eine gute Nachricht, dass der Bio-Markt in Deutschland insgesamt zu alter Form zurückfindet! Die Umsätze haben 2023 mit rund 16 Milliarden Euro sogar noch das Boomjahr 2021 übertroffen. Und im Marktbericht des Bauernverbandes werden für das Jahr 2024 wachsende Umsätze mit Bio-Lebensmitteln erwartet. Höchst erfreulich ist auch das Flächenwachstum im vergangenen Jahr: 2023 sind rund 80.500 Hektar Fläche für den Bio-Anbau hinzu gekommen − das entspricht rund 300 Fußballfeldern täglich. Ich habe die Unkenrufe mancher vor wenigen Jahren noch im Ohr, die meinten, der Bio-Trend sei vorbei. Das Gegenteil ist der Fall – und das ist eine gute Nachricht für die Unternehmen, für die Verbraucherinnen und Verbraucher und den Schutz unserer Ressourcen.
Meine Damen und Herren,
wenn wir von Nachhaltigkeit und Fairness sprechen, dann enden unsere Gedanken nicht an nationalen Grenzen. Fairness bedeutet auch die Umsetzung der Agenda 2030 mit dem wichtigen Ziel: Eine Welt ohne Hunger. Das Recht auf angemessene Nahrung ist ein globales Menschenrecht. Dabei ist Afrika, neben Lateinamerika und Asien, die Schwerpunktregion des BMEL-Engagements. Denn auf dem ganzen afrikanischen Kontinent birgt, wie in Burundi, das Agrar- und Ernährungssystem ein enormes Potenzial für eine nachhaltige und verbesserte Ernährungssicherung der Menschen vor Ort.
Diese Potenziale gilt es noch stärker zu heben, wofür es solcher Initiativen wie zwischen Baden-Württemberg und Burundi bedarf. Seit 40 Jahren bestehen zwischen Burundi und Baden-Württemberg enge Beziehungen, die 2014 in eine formelle Partnerschaftsvereinbarung gemündet sind. Mein Dank gilt allen, die zum Erfolg dieser Zusammenarbeit beitragen. Ihre Anwesenheit, Herr Außenminister Botschafter Shingiro, unterstreicht diesen Erfolg ja auch auf besondere Weise.
Wenn wir über die Land- und Ernährungswirtschaft im Globalen Süden sprechen ist für mich eines entscheidend:
- Wir müssen die dortigen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Institutionen deutlich stärker machen.
- Getreide muss da wachsen, wo es gebraucht wird.
- Und das Getreide, das dort geerntet wurde, muss dann auch tatsächlich dort zur Verfügung stehen.
In dieser Hinsicht gibt es im Globalen Süden noch ein gigantisches Potenzial. Denn in manchen Ländern gehen 50 Prozent der Ernte verloren, weil es keine guten Straßen gibt, keine Möglichkeit der Weiterverarbeitung oder ganz einfach: keine Getreidespeicher. Viel mehr Menschen könnten satt werden, wenn wir das globale Ausmaß der Verschwendung und des Verlusts von Lebensmitteln halbieren würden. Es darf eben nicht nur darum gehen, Getreidesäcke zu schicken – sondern darum, vor Ort Getreidesilos zu bauen, damit die Menschen sich nachhaltig selbst helfen können. Um das zu erreichen, arbeiten wir seit vielen Jahren eng mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) zusammen – im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, aber auch im Kreis der G7, der G20 und im UN Food Systems Summit Process.
Dieses Jahr feiern wir das 20. Jubiläum der Verabschiedung der Freiwilligen Leitlinien der Food and Agriculture Organization (FAO) zum Recht auf Nahrung. Aus diesem Anlass wird mein Ministerium im Juni die Sonderkonferenz "Politik gegen Hunger" in Berlin ausrichten. Wir wollen damit den Austausch zwischen internationalen Akteuren zu Ansätzen, Erfolgen und Hürden bei der Verwirklichung des Rechts auf Nahrung fördern.
Und auch im internationalen Handel mit den Ländern des globalen Südens müssen wir Fairness großschreiben. Hier brauchen wir Regeln, die für faire Arbeitsbedingungen und gesundheitlichen Schutz sorgen. Das ist das Ziel des deutschen Lieferkettengesetzes, das seit Anfang des vergangenen Jahres in Kraft ist. Auf EU-Ebene geht es jetzt mit der EU-Lieferkettenrichtlinie und der Verordnung für ein Verbot von in Zwangsarbeit hergestellten Produkten ebenfalls voran. Und die Zusammenarbeit meines Ministeriums mit Akteuren der Kakao und Palmöl-Branchen ist schon seit Längerem ein gutes Beispiel dafür, wie nachhaltige und faire Lieferketten Erfolgsgeschichte schreiben können.
Meine Damen und Herren,
Sie kennen sicher das Bild des Sisyphos, der einen gewaltigen Fels mühsam den Berg hochrollt – nur damit er ihm immer wieder entgleitet. Im Gegensatz zu Sisyphos sind wir allerdings noch ein gutes Stück vom Gipfel entfernt. Und das kann frustrieren – gerade wenn es um Schutz von Klima und Artenvielfalt oder den Kampf gegen Hunger geht. Es gibt aber noch einen Unterschied zu Sisyphos – und dieser Unterschied wiederum sollte Hoffnung machen: Im Gegensatz zu ihm haben wir unser Schicksal selbst in der Hand. Kriege, Krisen und gerade auch Hunger sind eine Geißel, aber eine menschengemachte. Sie können aber auch dazu führen, dass man sich ohnmächtig fühlt.
Es ist unser aller Verantwortung, immer deutlich zu machen, dass unser Handeln oder Nicht-Handeln einen entscheidenden Unterschied machen kann. Sie alle machen diesen Unterschied. Dafür danke ich Ihnen – und wünsche Ihnen eine erfolgreiche Messe!
Ort: Stuttgart