Die wichtigsten Akteure bei der Verwirklichung des Rechts auf Nahrung sind wir alle

Rede von Bundesminister Cem Özdemir zur Diskussionsveranstaltung der DGAP zu "Ökonomie der Nachhaltigkeit: Transformative Ansätze für die Ernährungssicherheit" am 12. April 2024 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede,

"Mit Messer und Gabel stimmen wir dreimal täglich, bei jeder Mahlzeit, auch ein wenig über die Zukunft der Welt ab."

Das ist ein Satz der Slow Food-Philosophie, den ich kürzlich in anderem Kontext verwendet habe. Aber mir erscheint er heute genauso passend. Er passt zu unserer Lebensrealität hier in Deutschland, in Europa und anderen Ländern, in denen jeder und jede am Supermarktregal oder in der Kantine entscheiden kann, was er oder sie essen möchte. In vielen Ländern hingegen würde der Satz wohl eher ein Stirnrunzeln hervorrufen. Weil es eben nicht überall selbstverständlich ist, frei entscheiden zu können –  beim Essen, aber nicht nur. Und das aus verschiedenen Gründen wie fehlender Governance, Klimakrise und ihre Folgen, Ressourcenmangel im weiteren Sinne, Konflikte und Kriege.

Wenn es allerdings um unsere eigenen Teller geht, dann hat das, was bei uns auf den Tisch kommt, weitreichende Konsequenzen. Für uns und unsere Zukunft, für Umwelt und Klima, für Menschen in allen Teilen unserer gemeinsamen Welt. Und da habe ich eine gute Nachricht: Etwa ein Drittel der Treibhausgasemissionen weltweit gehen auf unser Agrar- und Ernährungssystem zurück. Jetzt fragen Sie sich zurecht, was daran eine gute Nachricht sein soll. Nun, das kommt ganz auf die Perspektive an. Denn wir können es auch so sehen: Wenn in etwa ein Drittel der weltweiten Treibhausgasemissionen etwas mit unserer Ernährung zu tun hat, dann steckt darin ja auch eine große Chance für Veränderungen zum Besseren. Denn wie wir unsere Lebensmittel herstellen, wie wir sie zugänglich machen und uns ernähren, haben wir selbst in der Hand – da sind wir eben alles andere als machtlos.  

Sehr geehrte Frau Dr. Lüke,

vielen Dank für die Einladung und die Gelegenheit, dass wir über Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit und Ernährungssicherheit diskutieren können. Ich spreche tatsächlich lieber von Entwicklung oder Weiterentwicklung. Denn der Transformationsbegriff kommt gewissermaßen so maschinell daher und kann Menschen auch besorgen. Aber er ist ja gerade im internationalen Kontext ein eingeübter Begriff. Wenn wir also über die Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme sprechen, dann ist es immer auch ein Ziel, das uns eint: Das Ziel, ausreichend und gesunde Ernährung für alle Menschen zu ermöglichen – und dafür zu sorgen, dass 2030 niemand mehr Hunger leiden muss. Es ist in den vergangenen Jahren leider nicht einfacher geworden, diesem Ziel näher zu kommen. Die Zahl hungernder Menschen ist seit 2017 durch Konflikte und Kriege, die Klimakrise, die Nachwirkungen der Pandemie kontinuierlich gestiegen. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir die Zuversicht verlieren. Im Gegenteil, es muss unser Antrieb werden für Veränderung, die möglich ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang gerne vier Thesen mit Ihnen teilen, wie wir – auch wir als Ministerium – der Veränderung näherkommen können.

Meine erste Arbeitsthese lautet: Das Recht auf Nahrung mag in humanitärer Sicht selbstverständlich klingen. Aber es ist zugleich mehr. Es ist der Dreh- und Angelpunkt der nachhaltigen Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme. 1948 fand das Recht auf Nahrung Eingang in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Und vor 20 Jahren (2004) verabschiedete die FAO die "Freiwilligen Leitlinien zur Unterstützung der schrittweisen Verwirklichung des Menschenrechts auf angemessene Nahrung im Rahmen der nationalen Ernährungssicherheit". Diese Leitlinien weisen den Weg in eine Zukunft, in der die ärmsten und am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen gleichberechtigten Zugang zu ausreichend und nahrhaften Lebensmitteln sowie den Produktionsressourcen, wie Boden oder Wasser haben.

Aber das darf über eines eben nicht hinwegtäuschen: Der Kampf gegen Hunger und die Transformation unserer Agrar- und Ernährungssysteme betrifft auch ganz konkret unsere Zukunft und unser Lebensumfeld in Deutschland und Europa. Es ist keine gönnerhafte Wohltat der Industriestaaten, den Hunger auf der Welt zu besiegen. Es ist vielmehr knallhart in unserem eigenen Interesse, Agrar- und Ernährungssysteme so zu verändern, dass alle Menschen Zugang zu ausreichend, sicherer und gesunder Nahrung haben – und zwar nachhaltig und dauerhaft! Denn es ist ja kein Naturgesetz, dass wir hierzulande in 10, 20 oder 50 Jahren noch reichhaltige Ernten einfahren. In diesem Sinne bedeutet Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme zugleich auch immer, in globaler Sicht Boden, Wasser, Luft, Klima und Artenvielfalt zu schützen. Da sitzen wir nun wirklich alle in einem Boot, auch wenn das noch nicht alle wahrhaben wollen. Das Recht auf Nahrung ist damit nicht nur quasi eine narrative Figur, sondern der Dreh- und Angelpunkt und Leitstern jeder Maßnahme und Transformation. Alles, muss sich daran messen, ob wir heute und in Zukunft die Bedingungen schaffen und verbessern, das Recht auf Nahrung mit Leben zu füllen. Das ist natürlich nicht ohne, wenn ich das so als Minister sage, denn Sie werden mir später sicher das eine oder andere Beispiel nennen, wo wir als Bundesregierung unseren Ansprüchen nicht gerecht werden. Da müssen wir gemeinsam durch und Zuversicht bewahren. Diese Herausforderung wird sicher auch im Mittelpunkt unser Konferenz "Politik gegen Hunger" sein, die mein Ministerium im Juni ausrichten wird.

Meine zweite These lautet: Ein entscheidender Schlüssel zum Erfolg liegt im Wissenstransfer und in der Ausbildung. Ich sage bewusst nicht "der entscheidende Schlüssel", aber Wissenstransfer ist ganz sicher mitentscheidend. Aus diesem Grund arbeiten wir über Ländergrenzen hinweg mit Partnerinnen und Partnern vor Ort zusammen. Die weltweite Projektarbeit des BMEL fußt auf den Prinzipien der Agrarökologie sowie den Politikempfehlungen des Welternährungsausschusses (CFS). Denn bei allem Diskurs um die konkrete Umsetzung besteht doch darin Einigkeit, dass die Umsetzung agrarökologischer Prinzipien wesentlich zum Schutz unserer Ressourcen beiträgt. Durch ihren systemischen Ansatz reduziert sie die Abhängigkeit von externen Produktionsmitteln und stärkt die Resilienz von Produktionssystemen gegen die Folgen des Klimawandels. Mit diesem Kompass ausgerüstet arbeiten Vertretende der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der Politik zusammen, um eine vielfältige, ressourcenschonende und klimaangepasste Landwirtschaft zu entwickeln. Einfache Lösungen, die einmal entwickelt für alle Länder und Regionen anwendbar sind, gibt es nicht. Dennoch: Die vielfältigen Projekte ermöglichen fachlichen Austausch zu nachhaltigen Produktionssystemen und Technologien, zu tierwohlfördernden Haltungsmethoden.  

Diese Projektarbeit bündelt länderübergreifend Synergien. Ich möchte Ihnen dazu beispielhaft unsere Projekte in Südamerika skizzieren: Wir haben Kooperationen in Kolumbien, Brasilien, Uruguay und Argentinien. In Kolumbien bauen wir derzeit ein Ausbildungszentrum für Agrarökologie auf – das Deutsch-Kolumbianische Trainings- und Demonstrationsprojekt für Agrarökologie. Ganz gezielt werden hier Frauen und junge Nachwuchskräfte bei der Verwirklichung des Rechts auf Nahrung unterstützt, indigene Gruppen werden aktiv einbezogen. Das trägt übrigens auch zur Förderung des internen Friedensprozesses vor Ort bei – das wäre aber noch einmal einen eigenen Vortrag wert. In Brasilien beschäftigen wir uns im Rahmen eines Agrarpolitischen Dialoges mit entwaldungsfreien Lieferketten. Das Thema Bodengesundheit beschäftigt vor allem auch Uruguay, also sind wir dort in fachpolitischen Dialogen im Austausch. Ein uruguayisches und deutsches Agrarforschungsinstitut arbeiten heraus, welche Bewirtschaftungsformen und Umgebungsfaktoren sich positiv und negativ auf das Bodenmikrobiom auswirken. Nachhaltige Landwirtschaft und Innovationen beschäftigen uns in der Zusammenarbeit mit Argentinien.  

Ich denke, diese Beispiele verdeutlichen, worum es geht: Herausforderungen als Chance zu begreifen und gemeinsam dort anzufangen, wo man gerade steht. Nur so kommen wir zu regional angepassten Ansätzen, die durch die Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik vor Ort gleichermaßen mitgetragen werden. Nur so können wir im Schulterschluss die Entwicklung umwelt- und klimafreundlicher Ernährungssysteme beschleunigen. Im Übrigen ist das genau das, was SDG 17 besagt: Dass sich Partner weltweit zusammentun, um die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 mit geballter Kraft umzusetzen.  

Und damit komme ich zu meiner dritten These: Unsere bestehenden Ernährungssysteme sind anfällig für Risiken. Ein Problem beispielsweise ist, dass auf unseren Äckern, Wiesen und in Ställen häufig Monotonie herrscht – nicht nur hier, sondern in vielen Ländern dieser Welt. Die Entwicklung produktiver Sorten vor einigen Jahrzehnten war ein gewaltiger Fortschritt, um Menschen satt zu machen. Doch mit der Zeit wurden tausende regionaler traditioneller Sorten durch eine kleine Anzahl neuer, produktiverer Sorten ersetzt. Zum einen entwickelte sich eine hochproduktive Landwirtschaft, die immer mehr Menschen satt machte. Zur Wahrheit gehört aber eben auch Bodenerosion, Abhängigkeit von externen Faktoren wie Pflanzenschutzmitteln und Dünger, hoher Wasserverbrauch – die Folgen sind uns bekannt.

Wir haben zu lange übersehen, welche Gefahren in der Uniformität einheitlicher Nutzpflanzen und Produktionssystemen bestehen. Von Handelsabhängigkeiten einmal abgesehen erhöhen sich dadurch Risiken für Krankheiten, Biodiversitäts- und Artenverlust. Ein globales Nahrungsmittelsystem, das nur von einer begrenzten Auswahl an Pflanzen abhängt, ist einem größeren Risiko ausgesetzt, Krankheiten, Schädlingen und Klimaextremen zu erliegen. Es ist gut, dass zunehmend lauter und intensiver über den Verlust der Biodiversität und seine Folgen gesprochen wird. Und dass wir zurückfinden zu beispielsweise lokalem Getreide als Basis für Brot oder Bier aus der Region. Entsprechend hat das BMEL auch jüngst seine Nationale Strategie zu genetischen Ressourcen für Ernährung, Landwirtschaft, Forst und Fischerei vorgelegt. Denn die Vielfalt genetischer Ressourcen ist Voraussetzung für Züchtung, Innovation und damit für eine nachhaltige Landwirtschaft. Sie ist das Fundament einer vielfältigen, gesunden Ernährung.  

Anrede,

wir wissen nur zu gut, dass wir Hindernisse überwinden müssen auf dem Weg zu einer Welt ohne Hunger und zur Verwirklichung des Rechts auf Nahrung. Ich ende daher mit meiner vierten und letzten These: Die wichtigsten Akteure bei der Verwirklichung des Rechts auf Nahrung sind wir alle. Es geht nur gemeinsam oder gar nicht, wenn wir unser weltweit zusammenhängendes Agrar- und Ernährungssystem verändern wollen. Ohne Essen ist kein Leben, ohne Essen ist kein Frieden zu finden. Essen, Nahrung, unsere Landwirtschaft beeinflussen und prägen uns als Individuen und als Gesellschaft. Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, wie wir Landwirtschaft betreiben beeinflusst unsere Umwelt und das Klima. Wir müssen also die Art und Weise, wie wir wirtschaften und bewirtschaften, anpassen – schützen, was wir nutzen müssen, um zu leben.

Ich komme noch mal auf das Zitat zu Beginn zurück: "Mit Messer und Gabel stimmen wir dreimal täglich, bei jeder Mahlzeit, auch ein wenig über die Zukunft der Welt ab." Das stimmt. Jeder einzelne stimmt ein wenig ab. Das darf aber nicht den Eindruck erwecken, dass die Lösung auf einem einzelnen Teller liegt. Es geht um systematische Veränderungen, nicht einfach nur um individuelle. Ich freue mich auf das Gespräch gleich im Anschluss.

Vielen Dank.

Erschienen am im Format Rede

Ort: Berlin


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