Uns kann es nur dann gut gehen, wenn es unseren ländlichen Räumen gut geht
Rede von Bundesminister Cem Özdemir bei der BMWK-Regionenkonferenz "Gewinnen mit Erneuerbaren: Neue Chancen für ländliche Räume" am 14. Oktober 2024 in Berlin
Es gilt das gesprochene Wort!
Anrede,
wir kommen hier in der größten deutschen Stadt zusammen, um über die Zukunft unserer ländlichen Räume zu sprechen. Da liegt es auf der Hand, dass ich ein paar Worte zum vermeintlichen Gegensatz von Stadt und Land sage. Ich bin dankbar, dass ich Stadt und Land durch meine Biographie aus eigener Anschauung gut kenne. Heute ziehen wieder mehr Menschen von der Stadt aufs Land als vor rund 10 Jahren. Vielleicht steckt darin auch ein Verlangen nach einem Zusammenhalt, den manche in der Stadt vermissen. Man kennt sich eben – das war auch der Grund, warum ich meine Mutter nie überzeugen konnte, nach Berlin zu kommen, um mich besser um sie kümmern zu können.
Wenn wir an Stadt und Land denken, kommen uns oftmals die Unterschiede in den Sinn. Es gibt sie, aber mindestens wo wichtig sind die Gemeinsamkeiten. Ob es um Umweltschutz, Zusammenhalt, Respekt, Erfolg im Leben oder auch so etwas wie Pünktlichkeit geht – die Menschen in Stadt und Land ticken sehr ähnlich. Das hat gerade erst im April eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung bestätigt. Daran sollten wir denken, wenn hier und dort Gegensätze aufgemacht werden. Wir sollten insbesondere nie vergessen, dass die Unterschiede zwischen Demokraten immer kleiner sind als die Unterschiede zu denen, die unsere Demokratie zerstören wollen.
"Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern." Viele kennen dieses berühmte Zitat aus dem Roman "Der Leopard" von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Heute haben viele Menschen den Eindruck, dass das Gleichgewicht von Veränderung und Bewahrung gestört ist. Das verunsichert sie. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, diese Balance wiederherzustellen. Und das wird nur gehen, wenn wir gute Kompromisse finden. Gute Lösungen müssen oft mehreren Zielen, Gruppen und Regionen gerecht werden. Es ist mitunter effektiver, viele kleine Schritte zu unternehmen, anstatt auf den großen Durchbruch zu warten. Ja, manchmal muss man sich auch von der reinen Lehre verabschieden und über den eigenen Schatten springen. Ich nehme für mich und unseren Wirtschaftsminister ausdrücklich in Anspruch, dass wir immer wieder gute Kompromisse suchen, damit es vorwärts geht. Es geht darum, dass wir gemeinsam Antworten finden auf Fragen, die sich uns auch heute hier stellen. Und die Antworten darauf sind entscheidend – gerade auch in unseren ländlichen Räumen.
Es gehört zu den Kernaufgaben meines Ministeriums, ländliche Räume zu stärken und zu gleichwertigen Lebensverhältnissen in Stadt und Land beizutragen. Ein zentrales Instrument ist die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" (GAK). Trotz der schwierigen Haushaltslage haben wir es geschafft, die Mittel stabil zu halten. Das BMEL fördert damit unter anderem Einrichtungen und Projekte für Ehrenamt und gesellschaftliches Engagement – vom Jugendclub über das Vereinsheim der Freiwilligen Feuerwehr bis zur Aufwertung der Dorfmitte. Genauso unterstützt der Bund die Länder bei wichtigen Investitionen in die Infrastruktur – vom Küstenschutz über die Dorfentwicklung bis hin zur Anpassung an die Folgen der Klimakrise.
Ergänzend gibt es unser Bundesprogramm Ländliche Entwicklung und Regionale Wertschöpfung (BULEplus), das sicher viele von Ihnen kennen. Mit dem Bundesprogramm fördern wir Ideen, die dazu beitragen, auch in Zukunft auf dem Land gut leben und arbeiten zu können. Und das Gute daran ist: Die Ideen kommen von den Menschen, die auf dem Land leben, selbst. Mehr "Bottom up" geht nicht!
Wir wissen: Uns kann es nur dann gut gehen, wenn es unseren ländlichen Räumen gut geht. In der ländlichen Wirtschaft steckt viel von der Kraft unseres Landes. Dort sind hidden champions, viele mittelständische Industrien und Unternehmen zuhause, die rund 50 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in Deutschland und 60 Prozent der Ausbildungsplätze bereitstellen. Dort liegen die Flächen, die für den Ausbau von Photovoltaik, Windkraft und Netzen benötigt werden. Erneuerbare Energien, nachwachsende Rohstoffe, mittelständische Industrie und Handwerk, Wasser und Wald, Ackerböden und Artenvielfalt – überall dort entscheidet sich, ob wir auf neuen Wegen und guten Ideen unseren Wohlstand erhalten. Es gibt keine Stadt ohne Land. Es gibt keinen Wohlstand ohne Land. In Zukunft mehr denn je.
Deshalb ist die Beteiligung der Menschen und Kommunen an den Erträgen aus dem Ausbau der erneuerbaren Energien eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Energiewende. Dafür brauchen wir beides: Akzeptanz und aktives Mittun in den ländlichen Regionen! Das sollte allen bewusst sein, die in den Städten die Weichen für die Zukunft der Republik stellen. Robert Habeck und mir ist das sehr bewusst. Wir haben in Deutschland prosperierende Regionen, aber auch welche, wo Abwanderung stattfindet und es Defizite bei der Daseinsvorsorge gibt. Ein nachhaltiger Umgang mit unseren Lebensgrundlagen und Erneuerbare Energien sind eine Chance für diese Regionen, wenn wir es gemeinsam richtig anstellen. Gerade in den ländlichen Regionen schwätzt man ja auch nicht lang, sondern packt es an. Das erlebe ich immer wieder vor Ort in der ganzen Republik.
Das gilt gerade für Landwirtinnen und Landwirte. Ob Photovoltaik, Biomasse, Windkraft, Solarthermie oder Wasserkraft: Rund ein Viertel der 255.000 landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland sind hier schon aktiv. Nehmen wir beispielsweise Photovoltaikanlagen über den Hopfenfeldern in der Hallertau: Das ist nicht nur win-win, das ist Triple-win. Dort wird Hopfen und Strom erzeugt, während die Pflanzen vor zu viel Sonne und Hagel geschützt werden. Mit einer solch klugen Mehrfachnutzung von Flächen können wir den Ausbau der Erneuerbaren Energien vorantreiben –und Landwirtschafts- und Naturflächen vor Verlust schützen. Deshalb fördern wir solche Agri-PV-Anlagen und bringen das Beste aus verschiedenen Welten zusammen.
Es ist natürlich kein Selbstläufer, die Chancen der Erneuerbaren Energien voll auszuschöpfen. Es ist wichtig, dass wir die Akzeptanz stärken, die Leute bestmöglich in Entscheidungen einbinden. Es ist wichtig, dass wir unnötige Bürokratie abbauen und erst gar nicht entstehen lassen – daran arbeiten wir intensiv, es ist aber kein Sprint, sondern ein Marathon. Es ist wichtig, dass unsere Kommunen und unsere Unternehmen auch die Fachkräfte haben, um die Energiewende mitzugestalten und davon profitieren zu können. Und es ist wichtig, ich habe es bereits angesprochen, dass Kommunen und Bürger angemessen an den Erträgen und Gewinnen beteiligt werden. All das sind bedeutsame Herausforderungen. Und natürlich bleibt es bei all dem wichtig, weitere Ziele im Auge zu behalten: den Schutz des Klimas, den Erhalt der Artenvielfalt und das Sicherstellen der Grundlagen unserer Ernährung. Wir haben uns schon an die Arbeit gemacht und einiges in Gang gesetzt. Es gibt aber noch genug zu tun. Wir haben es selbst in der Hand, das Beste für unser Land daraus zu machen.
Ort: Berlin