Wir müssen die Debatte zwischen technologischem Fortschritt und ökologischer Nachhaltigkeit so führen, dass wir das Beste aus beiden Welten kombinieren.
Rede von Bundesminister Cem Özdemir zum Berliner Abend der Getreide-, Mühlen- und Stärkewirtschaft am 15. Oktober 2024 in Berlin
Es gilt das gesprochene Wort!
Anrede,
vielen Dank für die Einladung an diesen besonderen Ort. Ich freue mich, hier auch einige Gesichter zu sehen, mit denen wir im September unsere Backweizen-Initiative durch ein Verbändegespräch konkretisiert haben. Dazu später mehr.
Denn zunächst habe ich eine Frage: Wissen Sie, wer Norman Borlaug und William Vogt waren? Ich bin sicher, dass diese Namen einigen von Ihnen etwas sagen. Ich muss gestehen, mir vor Kurzem noch nicht. Dann bin ich im September über einen Artikel in der ZEIT gestolpert, der von beiden handelte – und ich hatte ein regelrechtes Déjà-vu! Denn der Text beschreibt die historische Kontroverse seit Beginn der 1940er Jahre über den richtigen Ansatz zur Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung. Eine Kontroverse, die uns alle bis heute beschäftigt.
Norman Borlaug befürwortete die "Grüne Revolution" mit Hochertragssorten und intensiver Landwirtschaft als Basis für Frieden und Wohlstand. Er zielte auf Ertragssteigerungen durch Pflanzenzüchtung und moderne Anbaumethoden. Durch seine Forschungsarbeit erreichte er tatsächlich massive Steigerungen der Getreideproduktion, besonders in Entwicklungsländern. 1970 wurde er mit dem Friedensnobelpreis geehrt. "Mehr als jede andere Person unserer Epoche hat er geholfen, eine hungrige Welt mit Brot zu versorgen" urteilte damals das Preiskomitee.
William Vogt hingegen sah die Arbeit von Borlaug schon Mitte der 1940er Jahre kritisch: Er warnte davor, die ökologischen Grenzen zu sehr auszureizen und plädierte für einen nachhaltigeren Ansatz. Für ihn war klar, dass Landwirtschaft langfristig nur im Zusammenspiel von Boden, Wasser sowie unter- wie auch oberirdischen Lebewesen erfolgreich sein könnte. Dazu gehörten die Anpassung an lokale Ökosysteme sowie die Begrenzung der industriellen Landwirtschaft. Er warnte zudem frühzeitig davor, dass ein zu hoher Fleischkonsum den Klimawandel antreiben würde. Die agrarpolitischen Entwicklungen der Vergangenheit zeigen ja deutlich auf, dass Borlaugs Ansatz zunächst dominierte und erfolgreich seinen Teil zur Ernährungssicherheit beitrug. Wir alle wissen aber mittlerweile auch, dass dieser Ansatz leider auch negative Folgen wie Umweltschäden und soziale Ungleichheit hat, die erst nach einiger Zeit deutlich wurden. Es steht also heutzutage die Frage im Raum: Wer von beiden hatte denn jetzt recht? Borlaug oder Vogt? Und ich denke, die Antwort lautet: beide!
Denn die Lösungen für zentrale Fragen zur Zukunft der Landwirtschaft liegen doch heute in einem Mittelweg, der Elemente beider Ansätze kombiniert. Wir müssen die Debatte zwischen technologischem Fortschritt und ökologischer Nachhaltigkeit so führen, dass wir das Beste aus beiden Welten kombinieren. Regenerativ, agrarökologisch, biologisch – das sind die Stichworte, die eine Landwirtschaft mit Zukunft auszeichnen. Ich kann Ihnen gar nicht aufzählen, wie viele kreative Ansätze auf Höfen ich in den vergangenen Wochen und Monaten gesehen habe. Das fängt an bei Projekten zu regenerativer Landwirtschaft, geht über die konkrete Anwendung von Agri-Photovoltaik-Anlagen bis zu Agroforstprojekten. Ich habe viele vielfältig aufgestellte konventionelle und ökologische Höfe erlebt. Die Praxis zeigt also, mit wie viel Innovationsgeist, Ideenreichtum und Lust auf Neues die Landwirtschaft arbeitet – und dabei den Mittelweg zwischen Vogt und Borlaug schon an vielen Stellen geht.
Liebe Gäste,
heute vor einer Woche haben wir im Ministerium Erntedank gefeiert. Wir haben gedankt für die Gaben der Natur, die uns satt machen. Wir danken den Bäuerinnen und Bauern, die mit harter Arbeit dafür sorgen, dass wir diese Gaben genießen können. Wir alle wissen, dass gerade Ihr Verband und Ihre Mitglieder ihren wirtschaftlichen Erfolg und ihre Perspektiven darauf aufbauen, dass wir auch in 10, 20 oder 50 Jahren erfolgreiche Ernten einfahren können. Aber die Realität zeigt, dass dies eben nicht selbstverständlich ist. Unser diesjähriger Erntebericht zeigt deutlich auf, dass die Klimakrise die Landwirtschaft längst erreicht hat. Wo andere den Klimawandel zurzeit am liebsten klein reden, müssen Sie einen Landwirt da nicht mehr überzeugen. Die Klimakrise erhöht die Häufigkeit und Dauer von Extremwetterereignissen, sie erschwert die Erzeugung und gefährdet zunehmend Ernten. Klimaschutz ist deshalb ein direkter Schutz unserer Ernten. Klimaschutz und Klimaanpassung sind das Gebot unserer Zeit. Für stabile Ernten ist das gesamte Wissen und Können der grünen Branche gefragt. Das gilt im Besonderen für Ihre Branche, die Rohstoffe verarbeitet, die zu über 90 Prozent aus Deutschland stammen.
Meine Damen und Herren,
im Kampf gegen die Klimakrise braucht es ein Maßnahmenbündel – es wird nicht die eine Lösung geben. Und dabei ist es immer besser, wenn Politik und Wirtschaft gemeinsam Kompromisse erarbeiten und so Lösungswege finden. Es braucht nicht immer das Ordnungsrecht, um zu guten Ergebnissen zu kommen. So haben wir es beim Thema Lebensmittelverschwendung gut hinbekommen, haben die Freiwilligkeit in den Mittelpunkt gestellt und sind erfolgreich. Deshalb freut es mich sehr, dass wir in diesem Sinne zusammen die schon von mir angesprochene Backweizen-Initiative auf den Weg gebracht haben.
An Backweizen werden besondere Qualitätsanforderungen gestellt, insbesondere einen hohen Rohproteingehalt im Korn – an dem sich auch der Preis orientiert. Könnte man sich vom Rohproteingehalt als bestimmenden Qualitätsparameter lösen, kann mit weniger Düngereinsatz Backweizen erzeugt – und konkret Klimaemissionen eingespart werden. Natürlich müssen unsere hohen Anforderungen ans Backergebnis immer gewährleistet bleiben. Ich bin aber überzeugt, dass wir mit unserem gemeinsamen Projekt die gesamte Wertschöpfungskette Backweizen stärken – von der Züchtung über die Landwirtschaft bis hin zu den Mühlen, Bäckereien und dem Handel. Deshalb ist die Backweizen-Initiative nicht nur eine Klima-Maßnahme unter vielen. Hier geht es um die Substanz, im wahrsten Sinne um unser täglich Brot. Ich danke allen sehr herzlich, die diesen Weg mit uns gemeinsam gehen.
Bei einem weiteren Thema, das viele der heutigen Gäste direkt betrifft, sie regelrecht umtreibt, würde ich mir wünschen, dass wir gemeinsam Erfolge feiern. Es geht um den Gehalt von Zucker in Frühstückscerealien für Kinder. Ich möchte hervorheben, dass die Hersteller die Selbstverpflichtung von 2012, Zuckergehalte um durchschnittlich mindestens 20 Prozent bis 2025 zu senken, eingehalten und sogar übertroffen haben. Dafür danke ich Ihnen sehr. Aber dies muss ja nicht bedeuten, die Anstrengungen zu einer weiteren Reduktion im Sinne der Gesundheit unserer Kinder zurückzufahren. Immer wieder ein bisschen besser werden – das ist doch das Credo des deutschen Mittelstandes! Solange die mittleren Zuckergehalte bei einigen Arten von Frühstückscerealien mit Kinderoptik sogar höher als bei vergleichbaren Produkten ohne Kinderoptik liegen, sehe ich weiteren Handlungsbedarf. Lassen Sie uns hierzu im Gespräch bleiben, damit der durchschnittliche Zuckergehalt von Frühstückscerealien mit Kinderoptik weiter gesenkt werden kann.
Meine Damen und Herren,
es gibt vermutlich kein Thema, auf das ich bei meinen Terminen auf Höfen und in Unternehmen mehr angesprochen werde als überbordende und unnötige Bürokratie. Deshalb drehen wir im Haus und gemeinsam mit den Ländern da gerade jeden Stein um. Wir haben auch schon zahlreiche Maßnahmen zum Abbau unnötiger Regeln auf den Weg gebracht, aber beim Bürokratieabbau ist der Weg das Ziel. Meine Position ist hier ganz klar: Bürokratie soll für Verlässlichkeit, Rechtssicherheit und die Einhaltung wichtiger Standards sorgen. Sie darf aber nicht unnötig aufwändig, praxisfern und innovationshemmend sein. Aber machen wir uns nichts vor: Bürokratieabbau ist mühsam und kleinteilig. Es gibt unterschiedliche Interessen, Notwendigkeiten und auch Ebenen. Einfach pauschal alles abzulehnen ist genauso wenig eine Lösung wie alles im Detail zu regeln. Denn natürlich stehen wir vor der Aufgabe, Regelungen abzubauen – aber wenn dann konkrete Missstände auftreten, dann heißt es in der Gesellschaft: Warum gibt es dafür keine Regelung? So oder so: Wir müssen da besser werden.
Auch als Bundesregierung haben wir mit dem vierten Bürokratieentlastungsgesetz einen konkreten Anfang gemacht. So sehen wir zukünftig weitere Maßnahmen für einen systematischen Bürokratieabbau vor: ein jährliches Bürokratieentlastungsgesetz und den konsequenten Abbau von Nachweis- und Berichtspflichten. In diesem Sinne soll die für Sie relevante Europäische Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) noch in dieser Legislaturperiode 1:1 durch Änderung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) so bürokratiearm wie möglich umgesetzt werden. Das Bundeswirtschaftsministerium hat zudem Praxis-Checks eingeführt, an denen auch mein Haus beteiligt ist. Da legen wir systematisch mit Unternehmen, Verwaltungen und anderen Experten den Finger in die Wunde und schauen, wo man wie vereinfachen kann. Gerade beim Lebensmittelhandwerk schauen wir aktuell genau hin. Da geht es also voran – und es geht auch nur gemeinsam, damit am Ende was Gescheites dabei rauskommt.
Liebe Gäste,
ich danke Ihnen für Ihr Engagement, für Ihre Arbeit für eine nachhaltige Landwirtschaft und die Vielfalt auf unseren Tellern. Lassen Sie uns auch zukünftig im engen Dialog, im guten Austausch bleiben. Aber jetzt möchte ich nicht weiter zwischen Ihnen, dem Buffet und guten Gesprächen stehen.
Vielen Dank!
Ort: Berlin